Gödel, Escher, Bach - ein Endloses Geflochtenes Band
daß ich zumindest diese langen Stunden angenehm überstehen kann. Ich habe nämlich herausgefunden, daß ein bißchen Zahlentheorie für mein unruhiges Gemüt Wunder wirkt.
Schildkröte: Sonderbare Idee! Wissen Sie, sie erinnert mich ein ganz kleines bißchen an die Geschichte des armen Grafen Keyserlingk.
Achilles: Wer war denn das?
Schildkröte: Oh, ein Graf in Sachsen im achtzehnten Jahrhundert, kein gravierender Graf, um es gleich zu sagen. Aber seinetwegen — nun, soll ich Ihnen die Geschichte erzählen? Sie ist sehr unterhaltsam.
Achilles: Wenn das der Fall ist, nur zu!
Schildkröte: Der brave Graf litt einmal an Schlaflosigkeit, und es traf sich, daß in derselben Stadt ein begabter Musiker wohnte, und so beauftragte Graf Keyserlingk diesen Musiker, einen Satz von Variationen zu komponieren, die der Cembalist des gräflichen Hofes in seinen schlaflosen Nächten spielen sollte, um die Stunden angenehmer verstreichen zu lassen.
Achilles: War der Komponist dem Auftrag gewachsen?
Schildkröte: Ich glaube schon, denn nachdem er die Komposition fertiggestellt hatte, belohnte ihn der Graf sehr großzügig — er gab ihm einen goldenen Kelch, der hundert Louisdor enthielt.
Achilles: Was Sie nicht sagen! Mich wundert nur, wo er den Kelch und vor allem all die Louisdor überhaupt her hatte.
Schildkröte: Vielleicht sah er ihn in einem Museum und fand Gefallen daran.
Achilles: Wollen Sie sagen, daß er sie hat mitgehen lassen?
Schildkröte: Nun, ich würde es nicht ganz so ausdrücken, aber ... Damals konnte sichein Graf fast alles leisten. Auf jeden Fall ist es klar, daß die Musik dem Grafen gefiel, denn er lag dem Cembalisten — fast noch ein Kind namens Goldberg fortwährend in den Ohren, ihm die eine oder andere der dreißig Variationen vorzuspielen. Infolgedessen (und das ist nicht ohne eine gewisse Ironie) erhielten die Variationen den Namen des jungen Goldberg anstatt des edlen Grafen.
Achilles: Sie meinen: der Komponist war Bach, und das waren die sogenannten „Goldberg-Variationen“?
Schildkröte: Und ob ich es meine! Eigentlich hieß das Werk Aria mit verschiedenen Veränderungen, deren es dreißig gibt. Wissen Sie, wie Bach diese großartigen Variationen aufbaute?
Achilles: Sagen Sie es mir!
Schildkröte: Alle Stücke mit Ausnahme des letzten basieren auf einem einzigen Thema, das er „Aria“ nannte. Was sie alle zusammenhielt, war nicht eine gemeinsame Melodie, sondern eine gemeinsame harmonische Basis. Die Melodien variieren, aber zugrunde liegt ihnen ein konstantes Thema. Erst in der letzten Variation nahm sich Bach einige Freiheiten heraus. Es ist eine Art „Ende nach dem Ende“. Es enthält von außen eingebrachte musikalische Ideen, die mit dem Originalthema nur noch wenig zu tun haben — in Wirklichkeit zwei deutsche Volkslieder. Diese Variation nennt man „Quodlibet“.
Achilles: Was ist sonst noch an den Goldberg-Variationen ungewöhnlich?
Schildkröte: Nun, jede dritte Variation ist ein Kanon. Zuerst ein Kanon, in dem die beiden Stimmen auf der GLEICHEN Note einfallen. Zweitens ein Kanon, in dem eine der beiden Stimmen EINE N OTE HÖHER als die erste einfällt. Drittens fällt eine Stimme ZWEI Noten höher ein. Und so weiter, bis der abschließende Kanon mit Noten beginnt, die genau eine Note auseinanderliegen. Zusammen zehn Kanons. Und ...
Achilles: Halt. Habe ich nicht irgendwo etwas über vierzehn kürzlich neuentdeckte Goldberg-Kanons gelesen ...?
Schildkröte: Stand das nicht in der gleichen Zeitschrift, in der unlängst von der Entdeckung von vierzehn bisher unentdeckten Tagen im November berichtet wurde?
Achilles: Nein, es ist wahr. Einem Mann namens Wolff — einem Musikwissenschaftler — kam etwas von einem speziellen Exemplar der Goldberg-Variationen in Straßburg zu Ohren. Er reiste also dorthin, um sie anzuschauen, und zu seiner Überraschung fand er auf der Rückseite als eine Art „Ende nach dem Ende“ diese vierzehn neuen Kanons, die alle auf den ersten acht Noten des Themas der Goldberg-Variationen basierten. Wir wissen jetzt also, daß es in Wirklichkeit vierundvierzig und nicht dreißig Goldberg-Variationen gibt.
Schildkröte: Das heißt, es sind vierundvierzig, bis ein anderer Musikforscher an irgendeinem unwahrscheinlichen Ort einen weiteren Stoß entdeckt. Und wenn das auch unwahrscheinlich ist, so ist es doch möglich, daß noch ein weiterer Stoß entdeckt wird, und dann noch einer und noch einer usw. ... Ja, es könnte überhaupt nicht
Weitere Kostenlose Bücher