Gödel, Escher, Bach - ein Endloses Geflochtenes Band
Formen, etwa wie ein sehr komplizierter Knallfrosch. Diese phantastischen Gebilde nennt man die Tertiärstruktur des Proteins (Abb. 95), während die Aminosäuren-Sequenz als solche Primärstruktur des Proteins heißt. Die Tertiär- ist in der Primärstruktur — genau wie bei der Typogenetik — angelegt. Jedoch ist das Rezept für die Ableitung, wenn die Primärstruktur bekannt ist, weit komplexer als bei der Typogenetik. Es ist gerade eine der Hauptaufgaben der modernen Molekularbiologie, Regeln aufzustellen, nach denen sich die Tertiärstruktur eines Proteins voraussagen läßt, wenn lediglich seine Primärstruktur bekannt ist.
Abb. 94 . Der Genetische Code, bei dem jedes Triplett eines Strangs der mRNS für eine von zwanzig Aminosäuren (oder ein Interpunktionszeichen [„punc.“]) steht.
Reduktionistische Erklärung der Funktion der Proteinfunktion
Ein anderer Unterschied zwischen Typogenetik und wirklicher Genetik — und wohl der wichtigste — ist dieser: Während in der Typogenetik jeder Bestandteil in Form einer Aminosäure für eine bestimmte Teilarbeit zuständig ist, können wirklichen Aminosäuren solch klare Rollen nicht zugeschrieben werden. Es ist die Tertiärstruktur als ganze, die bestimmt, wie ein Enzym funktioniert; es besteht keine Möglichkeit zu sagen: „Die Anwesenheit dieser Aminosäure bedeutet, daß diese oder jene Handlung ausgeführt wird.“ Mit anderen Worten, in der wirklichen Genetik ist der Beitrag einer einzelnen Aminosäure zur Gesamtfunktion des Enzyms nicht „kontextfrei“. Doch darf
Abb. 95 . Die Struktur von Myoglobin, abgeleitet aus Röntgenstrahlen von hohem Auflösungsvermögen. Das große Gebilde von „ineinandergewickelten Röhren“ ist die Tertiärstruktur; die feinere Helix im Inneren — die „Alpha-Helix“ — ist die Sekundärstruktur. [Aus: A. Lehninger, Biochemistry.]
diese Tatsache in keiner Weise als Munition für ein antireduktionistisches Argument verwendet werden, daß „das Ganze [das Enzym] nicht als Summe seiner Teile erklärt werden kann“. Das wäre völlig ungerechtfertigt. Was aber gerechtfertigt ist, ist die Ablehnung der einfachen Behauptung, daß „jede Aminosäure zum Gesamten in einer Art und Weise beiträgt, die von den anderen vorhandenen Aminosäuren unabhängig ist“. In anderen Worten: die Funktion eines Proteins darf nicht so verstanden werden, daß es von der kontextfreien Funktion seiner Einzelteile aufgebaut wird, sondern man muß sich überlegen, wie die Teile wechselwirken. Im Prinzip ist es immer noch möglich, ein Computerprogramm aufzustellen, das als Input die Primärstruktur eines Proteins nimmt, und erstens seine Tertiärstruktur bestimmt und zweitens die Funktiondes Enzyms. Das ergäbe eine vollkommen reduktionistische Erklärung der Funktion von Proteinen, aber die Bestimmung der „Summe“ der Teile erfordert einen sehr komplizierten Algorithmus. Die Erhellung der Funktion eines Enzyms, wenn man die Primär- oder sogar die Tertiärstruktur kennt, ist eine der anderen großen Fragen der modernen Molekularbiologie.
Vielleicht läßt sich letztlich das ganze Enzym so auffassen, daß es aus Funktionen von Teilen kontextfrei aufgebaut ist, wobei aber nun diese Teile als individuelle Teilchen aufgefaßt werden, wie etwa Elektronen und Protonen, anstatt als „Ballungen“, wie etwa Aminosäuren. Das ist ein Beispiel für das „reduktionistische Dilemma“: um alles vermittels kontextfreier Summen zu erklären, muß man auf die Ebene der Physik hinuntersteigen, aber dort ist die Anzahl der Teile dermaßen riesig, daß es sich nur um eine theoretische „im-Prinzip“-Aussage handeln kann. So muß man sich mit einer kontextabhängigen Summe begnügen, und das hat zwei Nachteile. Erstens sind die Teile viel größere Einheiten, deren Verhalten sich nur auf einer höheren Ebene, und deshalb unbestimmt, beschreiben läßt. Zweitens verleitet das Wort „Summe“ zu der Auffassung, daß jedem Teil eine einfache Funktion zugeordnet werden kann, und daß die Funktion als ganze einfach eine kontextfreie Summe dieser einzelnen Funktionen ist. Das kann man einfach nicht tun, wenn man versucht, das Funktionieren eines ganzen Enzyms aufgrund seiner Teile, den Aminosäuren, zu erklären. Aber das ist eben ein allgemeines Phänomen, das bei der Erklärung komplexer Systeme auftaucht. Um eine anschauliche Vorstellung zu gewinnen, wie die Teile wechselwirken, muß oft die Genauigkeit, die ein mikroskopisches, kontextfreies Bild
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