Gödel, Escher, Bach - ein Endloses Geflochtenes Band
wäre sogar irreführend, wollte man dieser Kette überhaupt eine Bedeutung geben, da sie ja nicht wohlgeformt ist, und unsere bedeutungstragende Interpretation beruht gänzlich darauf, daß wir wohlgeformte Ketten betrachtet haben.
In einem formalen System muß die Bedeutung passiv bleiben; wir können jede Kette gemäß der Bedeutung der sie konstituierenden Symbole lesen, haben aber nicht das Recht, neue S ÄTZE lediglich auf der Grundlage der ihren Symbolen zugeschriebenen Bedeutung aufzustellen. Interpretierte formale Systeme stehen auf der Grenzezwischen Systemen ohne Bedeutung und Systemen mit Bedeutung. Die Ketten kann man so auffassen, daß sie Dinge „ausdrücken“, aber das darf nur als Folge der formalen Eigenschaften des Systems geschehen.
Doppelbedeutung!
Und jetzt will ich jegliche Illusion zerstören, daß wir die Bedeutungen für die Symbolik des pg-Systems gefunden haben. Betrachten wir die folgende Zuordnung:
p
gleich
g
weggenommen von
−
eins
−−
zwei
usw.
Nun hat −−p−−−g−−−−− eine neue Interpretation: „2 ist gleich 3 weggenommen von 5“. Selbstverständlich eine wahre Aussage. Alle S ÄTZE sind bei dieser neuen Interpretation wahr. Sie ist genauso bedeutungstragend wie die alte. Offensichtlich ist die Frage: „Aber was ist die Bedeutung der Kette?“ nicht sehr sinnvoll. Eine Interpretation ist bedeutungstragend in dem Grade, in dem sie eine Isomorphie mit der wirklichen Welt präzis widerspiegelt. Sind verschiedene Aspekte der wirklichen Welt isomorph (in diesem Fall Addition und Subtraktion), kann ein einziges formales System zu beiden isomorph sein und somit zwei passive Bedeutungen haben. Diese Art Doppelwertigkeit von Symbolen und Ketten ist ein äußerst wichtiges Phänomen. An dieser Stelle scheint sie trivial , kurios und ärgerlich, sie wird aber in tieferliegenden Zusammenhängen wieder auftreten und eine große Fülle von Ideen mit sich bringen.
Hier eine Zusammenfassung unserer Beobachtungen am pg-System. Bei jeder der beiden bedeutungstragenden Interpretationen, die wir gegeben haben, hat jede wohlgeformte Kette als Entsprechung eine grammatikalische Behauptung — einige dieser Behauptungen sind wahr, andere falsch. Der Begriff der wohlgeformten Kette in einem formalen System besagt, daß es sich um diejenigen Ketten handelt, die, wenn wir ein Symbol nach dem andern interpretieren, grammatikalisch richtige Ausdrücke ergeben. (Das hängt natürlich von der Interpretation ab, aber im allgemeinen schwebt einem eine gewisse Interpretation vor.) Unter den wohlgeformten Ketten gibt es solche, die S ÄTZE sind. Diese sind durch ein Axiomenschema und eine Erzeugungsregel definiert. Mit der Erfindung des pg-Systems bezweckte ich, die Addition zu imitieren: Ich wollte, daß jeder S ATZ , wenn interpretiert, eine richtige Addition ausdrücken würde; umgekehrt wollte ich, daß jede richtige Addition von genau zwei positiven ganzen Zahlen sich in eine Kette übersetzen lasse, die dann ein S ATZ wäre. Dieses Ziel wurde erreicht. Man beachte also, daß alle unrichtigen Additionen, z. B. „2 plus 3 gleich 6“ auf Ketten abgebildet werden, die wohlgeformt, aber keine S ÄTZE sind.
Formale Systeme und Wirklichkeit
Dies ist unser erstes Beispiel des Falles, daß ein formales System auf einem Teil der Wirklichkeit beruht und sie perfekt nachzuahmen scheint, da die S ÄTZE den Wahrheiten über diesen Ausschnitt aus der Wirklichkeit isomorph sind. Doch sind Wirklichkeit und formales System voneinander unabhängig. Niemand braucht sich bewußt zu sein, daß zwischen beiden eine Isomorphie besteht. Beide stehen für sich — eins plus eins gleich zwei, gleichgültig ob wir wissen, daß −p−g−− ein S ATZ ist; und −p−g−− ist immer noch ein S ATZ , ob wir es mit Addition in Zusammenhang bringen oder nicht.
Man fragt sich vielleicht, ob die Erzeugung dieses oder eines anderen formalen Systems neues Licht auf die Wahrheiten in ihrem Interpretationsbereich wirft. Hat die Erzeugung von pg-S ÄTZEN uns irgendwelche neuen Additionen gelehrt? Sicher nicht. Aber wir haben etwas über das Wesen der Addition als eines Prozesses gelernt, nämlich daß sie ohne Schwierigkeit durch eine typographische Regel über bedeutungsleere Symbole nachgeäfft werden kann. Das sollte keine besondere Überraschung sein, da „Addition“ ja ein so einfacher Begriff ist. Jedermann weiß, daß man die Addition mit den sich drehenden Rädern einer Vorrichtung wie etwa einer
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