Gödel, Escher, Bach - ein Endloses Geflochtenes Band
das die räumliche Trennung der Gegenstände ins Spiel bringt, sowie die Forderung, daß sich jeder Gegenstand von allen andern klar unterscheiden läßt. Aber wie kann man Ideen zählen? Oder die Anzahl der Gase in der Atmosphäre? Wenn Sie sich die Mühe nehmen, werden Sie wahrscheinlich irgendwo auf eine Behauptung wie die folgende stoßen: „In Indien gibt es 17 Sprachen und 462 Dialekte.“ Solche präzise Angaben sind etwas seltsam, da doch die Begriffe „Sprache“ und „Dialekt“ selbst verschwommen sind.
Ideale Zahlen
Zahlen als Realitäten benehmen sich schlecht. Aber den Menschen ist ein uraltes Gefühl angeboren, daß Zahlen sich nicht schlecht benehmen sollten. In der abstrakten, von Perlen, Dialekten und Wolken losgelösten Vorstellung der Zahl ist etwas Klares und Reines, und es sollte eine Möglichkeit bestehen, über Zahlen zu sprechen, ohne daß sich fortwährend die Bagatellen der Wirklichkeit hereindrängen und breitmachen. Die harten Regeln, die die „idealen“ Zahlen beherrschen, stellen die Arithmetik dar, und ihre weiteren Konsequenzen die Zahlentheorie. Beim Übergang von der Zahl als einem Ding der Praxis zu der Zahl als einem formalen Gebilde stellt sich nur eine Frage. Wenn man sich einmal entschlossen hat, die gesamte Zahlentheorie in ein ideales System zu fassen, ist es wirklich möglich, diese Aufgabe vollständig zu erledigen? Sind Zahlen so rein und kristallin und regelmäßig, daß man sie in den Regeln eines formalen Systems vollständig einfangen kann? Das Bild Befreiung ( Abb. 13 ), eines der schönsten, die Escher geschaffen hat, zeigt einen wunderbaren Kontrast zwischen dem Formalen und dem Informellen und dazwischen einen faszinierenden Übergangsbereich. Sind Zahlen wirklich so frei wie Vögel? Leiden sie ebensosehr, wenn man sie in von Regeln beherrschten Systemen kristallisiert? Gibt es einen magischen Übergangsbereich zwischen Zahlen der Wirklichkeit und Zahlen auf dem Papier?
Wenn ich von der Eigenschaft der natürlichen Zahlen spreche, dann meine ich nicht einfach Eigenschaften wie die Summe eines bestimmten Zahlenpaares. Diese kanndurch Zählen ausfindig gemacht werden, und niemand, der in unserem Jahrhundert aufgewachsen ist, kann daran zweifeln, daß Prozesse wie zählen, Addition, Multiplikation usw. sich mechanisieren lassen. Ich meine vielmehr die Eigenschaften, an deren Erforschung die Mathematiker interessiert sind, Probleme, zu deren Lösung kein Zählprozeß — nicht einmal theoretisch — genügt. Nehmen wir ein klassisches Beispiel einer solchen Eigenschaft der natürlichen Zahlen. Der Satz lautet: „Es gibt unendlich viele Primzahlen.“ Zunächst einmal gibt es keinen Zählprozeß, vermittels dessen sich diese Behauptung jemals bestätigen oder widerlegen ließe. Das beste, was wir tun könnten, wäre, die Primzahlen eine Zeitlang zu zählen und einzuräumen, daß es „viele“ sind. Doch würde noch so viel Zählen an sich die Frage niemals lösen, ob die Anzahl der Primzahlen endlich oder unendlich ist. Es könnte immer noch weitere geben. Der Satz — er heißt Euklids Satz (man beachte die Schreibweise!) — liegt keinesfalls auf der Hand. Er ist vielleicht vernünftig oder einleuchtend, aber er liegt nicht auf der Hand. Und doch haben ihn Mathematiker seit Euklid immer für wahr gehalten. Aus welchem Grund?
Euklids Beweis
Der Grund dafür ist, daß sie sich durch folgerichtiges Denken davon überzeugt haben. Gehen wir diesem Denken nach. Wir werden uns eine Variante von Euklids Beweis anschauen. Dieser Beweis geht so vor sich, daß wir zeigen: es gibt für jede beliebige Zahl immer eine noch größere Primzahl. Nehmen wir also eine Zahl — N. Nunmehr multiplizieren wir alle positiven ganzen Zahlen von 1 bis N einschließlich; mit andern Worten bilden wir „N-Fakultät“, geschrieben „N!“. Das Ergebnis ist durch jede Zahl bis N einschließlich teilbar. Wenn wir 1 zu N! addieren, kann das Ergebnis
nicht ein Vielfaches von 2 sein
(weil 1 übrigbleibt, wenn
man durch 2 dividiert);
nicht ein Vielfaches von 3 sein
(weil 1 übrigbleibt, wenn
man durch 3 dividiert);
nicht ein Vielfaches von 4 sein
(weil 1 übrigbleibt, wenn
man durch 4 dividiert);
·
·
·
nicht ein Vielfaches von N sein
(weil 1 übrigbleibt, wenn
man durch N dividiert);
Mit anderen Worten: wenn N! + 1 überhaupt (außer durch sich selbst und durch 1) teilbar ist, ist es nur durch Zahlen teilbar, die größer als N sind. Deshalb ist es selbst eine Primzahl oder seine
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