Göring: Eine Karriere (German Edition)
Hauptkriegsverbrecher zu Gericht sitzen. Neben der symbolischen Bedeutung der Stadt sprach für Nürnberg in den Augen der Sieger vor allem die Tatsache, dass der Justizpalast und das ihm angeschlossene Gefängnis die Luftangriffe unversehrt überstanden hatten und genügend Raum für das Gericht und die Gefangenen boten. Die Siegermächte hatten sich auf vier Anklagepunkte geeinigt: Planung (1) oder Durchführung (2) eines Angriffskriegs sowie Beteiligung an Kriegsverbrechen (3) oder Völkermord (4). Obwohl er, wie er wusste, keine Chance auf einen Freispruch von diesen Anklagepunkten hatte, freute sich Göring auf den Beginn des Prozesses. Nach den monatelangen Einzelverhören in Mondorf und Nürnberg suchte er die Öffentlichkeit. Er hoffte, die Anklagebank als Propagandabühne nutzen zu können, wie es einst Hitler nach dem gescheiterten Putsch von 1923 gelungen war. Er sei entschlossen, als großer Mann in die Geschichte einzugehen, erklärte er gegenüber dem amerikanischen Gefängnispsychiater Douglas M. Kelley. »Wenn ich den Gerichtshof nicht überzeugen kann, dann werde ich wenigstens das deutsche Volk davon überzeugen, dass alles, was ich getan habe, für das Reich geschehen ist. In fünfzig oder sechzig Jahren wird es in Deutschland Denkmäler für Hermann Göring geben.«
Die Zustände im Nürnberger Gefängnis unterschieden sich freilich erheblich von den privilegierten Haftbedingungen, die Hitler in der Festung Landsberg genossen hatte. Um Selbstmorde zu unterbinden, hatte Oberst Andrus, der seine Gefangenen von Mondorf nach Nürnberg begleitete, ein rigides Überwachungssystem eingeführt. Selbst Schnürsenkel, Hosenträger und Rasierzeug musste Göring an seine Bewacher abgeben, nachdem es dem einstigen »Reichsorganisationsleiter« Robert Ley gelungen war, sich mit dem abgerissenen Saum eines Handtuchs in seiner Nürnberger Zelle zu strangulieren. Auch nachts strahlte das grelle Licht eines Scheinwerfers die Gefangenen an, die sich nie unbeobachtet fühlen sollten. Durch eine Türklappe warfen Posten alle paar Minuten einen prüfenden Blick in das Innere ihrer Zellen. Deren Insassen war es strikt verboten, sich auf den Bauch zu legen, da ihr Gesicht und eindeutige Lebenszeichen von außen dann nicht zu erkennen waren.
Auf Befehl von Andrus war es den Wachsoldaten untersagt, mit den Gefangenen zu sprechen – eine Weisung, die freilich oft übertreten wurde. Viele GIs baten ihre prominenten Gefangenen um ein Autogramm, vor allem der Schriftzug Hermann Görings, des »Nazi number one«, wie er genannt wurde, stand hoch im Kurs. Bitten dieser Art schlug der eitle Reichsmarschall selten ab und suchte seinerseits seine Bewacher in Gespräche zu verwickeln. Einen besonders guten Kontakt knüpfte er zu Leutnant Jack Wheelis. Der Texaner war wie Göring ein leidenschaftlicher Jäger. Ein Foto, das beide im Nürnberger Gefängnis zeigt, signierte Göring auf der Rückseite mit: »Dem großen Jäger aus Texas mit Waidmanns Heil. Reichsjägermeister Hermann Göring«. Seinem neuen »Jagdfreund« überließ Göring sogar seine Armbanduhr und ein goldenes Streichholzetui mit diamantenem Luftwaffenadler und einem Hakenkreuz aus Rubinen. Wheelis revanchierte sich auf seine Weise: Als wachhabender Offizier hatte er Zugang zum Gepäckraum, in dem Görings Sachen lagerten. Immer wieder schmuggelte er heimlich dessen Toilettentasche in die Zelle, in der sich auch die von Göring besonders verlangte Dose mit Hautcreme befand. Er ahnte nicht, dass Göring ihn als Schachfigur in seinem letzten Spiel benutzte.
»Nicht schuldig«: Görings persönliche Erklärung am zweiten Verhandlungstag in Nürnberg
Der Prozess lief nicht nach den Erwartungen Görings. Statt die Anklagebank zur Bühne zu machen, blieb seine Rolle zunächst auf die eines Zuhörers beschränkt. Tagelang wurden nur die Dokumente der Anklage verlesen. Am 29. November wurden Auszüge aus den abgehörten Telefongesprächen Görings während der Österreich-Krise vorgelesen, die im Publikum Gelächter hervorriefen. Dieses verstummte, als die amerikanischen Ankläger am späten Nachmittag im verdunkelten Gerichtssaal einen Film vorführten. Entsetztes Schweigen breitete sich aus – nur Göring verzog keine Miene. Scheinbar schläfrig saß er auf der Anklagebank, zusammengesunken, die Hände vor den Augen, nur ab und zu hob er den Kopf und tat so, als hätten die Bilder des filmischen Beweisstücks »2430-S« nichts mit ihm zu tun. Über den
Weitere Kostenlose Bücher