Gößling, Andreas
schleichen – sofern ich bis dahin nicht doch noch von den wilden Leuten ent deckt und verschleppt oder gleich an Ort und Stelle verspeist worden bin.
Wenn doch zumindest Piet hier wäre, dachte er dann. Sein Freund hatte immer unzählige Einfalle, wie man sich selbst aus der ärgsten Patsche wieder befreien konn te. Aber es sah ganz so aus, als ob Piet tatsächlich vor den beiden Schmieden die Flucht ergriffen hatte. Julian hatte von früh bis spät gegrübelt, was da letzte Nacht an der Seitentür des Apothekerhauses passiert sein mochte. Von Piet hatte er seitdem nichts mehr gehört. Und bevor er heute seinen Freund suchen konnte, musste er natürlich wieder den ganzen Tag über im Apothekenkeller rackern. Gleich früh am Morgen hatte ihn sein Lehrherr angewie sen, eine aufwändige Salbe für Wundpflaster zuzuberei ten. Danach musste er einen Bottich voll Baldrian für den Schlaftrunk einkochen, mit dem sich der raffgierige Herr Lohenkamm eine goldene Nase verdiente. Als er seinen Famulus endlich gnadenhalber ziehen ließ, hatten die Glocken lange schon acht Uhr geläutet. Julian war im Laufschritt zum ehemaligen Jagdschloss hinausgetrabt, aber der erschrockene Odilo hatte nur ein ums andere Mal gestammelt: »Kein … kein Piet hier.«
Also musste Piet letzte Nacht tatsächlich auf und da von gerannt sein. Zu diesem Schluss war Julian gelangt, während er zurück in die Stadt getrottet war. Und warum sonst hätte Piet die Flucht ergreifen sollen, wenn nicht deshalb, weil er wirklich etwas ausgefressen hatte? Dar um wollte er mir auch sein Bündel nicht überlassen, dachte Julian – weil seine Diebesbeute darin war, die Gold- und Silberstücke, die er dem Bäckermeister Wulf aus der Schatztruhe geklaut hat. Und das wiederum hieß zwar einerseits, dass sein Freund leider ein ehrloser Gauner war. Auf der anderen Seite bewies es aber auch, dass Meister Justus wahrhaftig ein großmächtiger Magier sein musste – imstande, einen hellsichtigen Dämon wie Zenturius herbeizuzwingen, der ganz genau wusste, was überall in Häusern und Köpfen vor sich ging. Und deshalb hatte sich Julian geschworen, dass er von jetzt an bei allem dabei sein würde, was der Meister und seine Licht träger zur Erschaffung der Golems unternehmen würden – selbst wenn sein Gewissen sich heiser schreien und sogar wenn es ihn seine Seligkeit kosten würde. Aber was hilft mir mein großartiger Schwur, dachte der Famulus dann – wenn ich hier zwischen Baum und Moorloch feststecke und Meister Justus längst aus den Augen verloren habe!
So grübelte Julian vor sich hin und bemerkte erst mit einiger Verspätung, dass die vier Fackeln der Logenbrü der allenfalls fünfzig Schritte weiter im Wald munter flackerten. Doch seltsamerweise befanden sie sich so hoch über ihm, dass er den Kopf in den Nacken legen musste, um sie überhaupt zu sehen.
Was sollte das bedeuten? Hatte der Großmächtige Meister etwa sich selbst und seine Lichtträger durch ei nen magischen Spruch in die Lüfte erhoben?
Natürlich nicht, du begriffsstutziger Famulus, schrie seine innere Stimme. Sie sind oben auf dem Hexenhügel – da wollten sie doch schließlich hin! Und der Weg dort hinauf führt offenbar auf der Rückseite des Hügels hoch – deshalb waren sie zwischenzeitlich verschwunden und sind jetzt über unserem Kopf wieder aufgetaucht!
Das leuchtete Julian ein, auch wenn er mit dem Ton, den sein Gewissen ihm gegenüber anschlug, nicht einverstanden war. Vorsichtig, um nicht aufs Neue im Schlamm zu versinken, trat er zwischen Baum und Moor hervor und tappte hinter den Logenbrüdern her. Vor je dem Schritt tastete er mit einem Fuß auf dem Boden herum, denn von Moorlöchern hatte er für diese Nacht genug.
Bis er sich auf diese Weise um den Hexenhügel – oder auch Drachenberg – herum und zum Gipfel emporgearbeitet hatte, war mindestens eine halbe Stunde vergangen. Als er endlich oben bei der alten Tempelruine eintraf, hatten die Rosenspiegler die Vorbereitungen für ihre magische Zeremonie offenbar schon weitgehend beendet. Im Licht der Fackeln, die in einem weiten Kreis in den Boden gerammt waren, erinnerte die Anordnung der übereinander gestürzten gewaltigen Steinplatten tatsächlich an ein aufgerissenes Drachenmaul. Es sah atemberaubend aus. Aber nicht nur deshalb hätte Julian, der hinter einem von Blitzschlag und Sturmböen zerfetzten Baum Deckung gefunden hatte, wahrhaftig fast vergessen, Luft zu holen.
Neben der Tempelruine klaffte ein Loch im
Weitere Kostenlose Bücher