Gößling, Andreas
Tageslicht drang nicht einmal am hellen Mittag durch die Wipfel der dicht belaubten Baumriesen – geschweige denn um Mitternacht.
Eulen schrien ihre Warnrufe. Wildkatzen schlichen mit glühenden Augen durchs Unterholz. Angespannt lauschte Julian in die Dunkelheit – beinahe mehr noch als vor den Moorlöchern graute ihn vor den wilden Leu ten, die ihn packen und in ihre Höhlen verschleppen konnten. Unzählige Geschichten von solchen Unseligen gab es, die den Waldmenschen für ihr restliches Leben zu Diensten sein mussten. Holz für sie sammeln, Feuer machen, abscheuliche Suppen kochen, in denen ganze Tierkadaver schwammen – wenn sie nicht gleich selbst von den wilden Leuten in Stücke gehackt und gesotten wurden.
Unbeirrbar stapfte der Großmächtige Meister voraus, gefolgt vom schwergewichtigen Ritter von Croplinsthal, der zwei Schaufeln geschultert trug. Hinter ihnen schleppten sich die beiden Schmiede mit dem flachen Etwas ab, das unter einem schwarzen Tuch verborgen war. Bestimmt ein Behältnis, das sie mit dem lebenskräftigen Lehm füllen wollten, dachte der Famulus. Obwohl es für ein Gefäß sonderbar flach war.
Aber darum konnte er sich jetzt nicht kümmern. Der Großmächtige Meister blieb unvermittelt stehen. Mit einem Satz verschwand Julian hinter einem Baumstamm – und spürte voller Entsetzen, wie seine Füße in einem zä hen Brei versanken.
»Noch etwas«, sagte Meister Justus. »Wir ordnen sie sternförmig an. Habt ihr verstanden? So passen sie alle auf einmal darunter. Wenn ich mich nicht sehr täusche, bleibt uns dort nur wenig Zeit.«
Die Lichtträger murmelten ihre Zustimmung. Der Gold- und der Silberschmied, die ihre Last abgesetzt hat ten, stemmten sie ächzend aufs Neue empor. Wieder setzte sich der kleine Zug in Bewegung.
Mit klopfendem Herzen wartete Julian, bis die Lichter vor ihm von der Dunkelheit fast verschluckt worden wa ren. Dann erst versuchte er, sich aus dem Moorloch zu befreien. Bei lebendigem Leib im Schlamm unterzugehen , wäre ein grässliches Schicksal. Doch von Meister Justus entdeckt zu werden und dabei bis zu den Schienbeinen im Moor zu stecken, kam ihm noch viel furchtbarer vor. Dem Tod preisgegeben und der Lächerlichkeit noch dazu.
Julian umklammerte mit beiden Armen den Baum. Dann zog er mühsam sein rechtes Bein aus dem Schlamm. Das verdammte Zeug umschloss ihm Fuß und Unterschenkel wie ein eng anliegender Stiefel. Als ob es einen eigenen Willen hätte, so erbittert wehrte sich das Moor dagegen, ihn wieder freizugeben. Doch schließlich schaffte es der Famu lus, sein Bein aus dem Rachen dieser modrigen Bestie herauszureißen. Einen Augenblick lang zappelte er keuchend mit dem befreiten Fuß in der Luft herum, dann fand er auf einer Baumwurzel halbwegs sicheren Halt.
Als er kurz darauf auch seinen zweiten Fuß freigekämpft hatte, war von den Logenbrüdern und ihren Fackeln nichts mehr zu sehen. Vollkommene Finsternis umgab ihn. Die Bäume ächzten und seufzten – oder wa ren das schon die wilden Leute, die durchs Unterholz heranschlichen?
Eine besonders grauenvolle Geschichte musste Julian natürlich ausgerechnet jetzt in den Sinn kommen. Angeb lich liebten es die wilden Leute, ihre Opfer bei lebendi gem Leib aufzufressen. Vorjahr und Tag sollte es einem Jun gen, der sich in den Bannwald verirrt hatte, mal so ergangen sein: Tief in der Nacht rannten die Waldmenschen hinter ihm her. Er konnte sie nicht sehen, nur ihr Ächzen und Keuchen hören – und ihre Zähne spüren, die sie ihm wieder und wieder blitzschnell ins Fleisch schlugen. In Schultern, Beine, Bauch. So stolperte er schreiend durch die Dunkelheit und währenddessen fraßen ihn die wilden Leute happenweise auf.
Julian war jetzt vor Angst wie gelähmt. Weder vor wärts noch rückwärts, nicht nach links oder rechts get raute er sich auch nur einen Schritt zu gehen. Das Moor würde ihn verschlingen, die wilden Leute würden ihn packen, oder sonst etwas Grässliches würde passieren, wenn er sich von der Stelle bewegte. Von den Logenbrüdern war sowieso kein Schnaufer mehr zu hören und nicht das schwächste Lichtflackern zu sehen.
Mir bleibt nichts anderes übrig, sagte sich Julian, als auszuharren, wo ich bin – an diesen Baum geklammert, mit Schlamm beschmiert, hinter mir das Moorloch und ringsum tausend tödliche Gefahren. Wenn ich Glück ha be, kehren die Logenbrüder nachher auf demselben Weg zum Hegendahl’schen Anwesen zurück. Dann kann ich zumindest wieder hinter ihnen her
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