Gößling, Andreas
wieder gesehen. Aber diese Sache müssen wir nun mal zu Ende zu bringen, ob es uns gefällt oder nicht. Deshalb werde ich gleich morgen einige Werke aus Meister Marthelms Bibliothek zu Rate ziehen.«
Bei dem Wort Bibliothek fuhr Marian zusammen. »Wie spät ist es eigentlich?«, fragte er.
Sämtliche Logenbrüder tasteten nach ihren Taschenuhren und angelten sie an goldenen Ketten aus ihren Westentaschen. Ließen goldene Uhrdeckel aufschnappen und vertieften sich in den Anblick des Ziffernblatts.
»Gleich halb drei«, sagte schließlich einer der alten Männer. Die anderen studierten noch einige Augenblicke lang ihre Uhren und stimmten ihm dann murmelnd zu.
»Wenn Sie einverstanden sind«, sagte Marian, »gehe ich jetzt noch mal in die Bibliothek hoch, um ein paar Sachen nachzuschlagen.« Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihm der Schreck in die Glieder gefahren war. In der Nähe eines solchen Sphärenfensters floss die Zeit anscheinend viel schneller als normaler weise – und das galt wohl erst recht, wenn man zur Hälf te in dieser Pforte bereits drinsteckte.
Jedenfalls war es in Julians Welt jetzt fast schon Mitternacht. Meister Justus und seine Lichtträger konnten das Hegendahl’sche Gutshaus jede Minute durch das hintere Tor verlassen, um sich am Hexenhügel lebenskräftigen Lehm für die Erschaffung der Golems zu besorgen.
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»Noch einmal, bevor wir da rausgehen. Gunter, Benno, Bardo – hört mir ganz genau zu.«
Die Stimme von Meister Justus klang angespannt. Mit seinen drei Lichtträgern stand er im Hinterhof des He gendahl’schen Gutshauses. Auf der anderen Mauerseite ins Dunkel geduckt, musste Julian die Ohren spitzen, um seine Worte zu verstehen. Das Herz hämmerte ihm in der Brust. Aber er war entschlossen, sich nicht die kleinste Kleinigkeit entgehen zu lassen. Von Meister Justus’ An weisungen und allem anderen, was danach geschehen würde.
»Ihr wisst, dass Barixa und ihre Hexen den Bannwald für sich beanspruchen«, fuhr der Großmächtige Meister fort. »Das gilt natürlich vor allem für den Drachenberg mit dem alten Tempel. Sie haben diese Stätte frech in Hexenhügel und Hexendom umbenannt. Aber das ändert nicht das Geringste daran, dass es in alten Zeiten das Heiligtum eines auserwählten Magierbundes war. Nirgendwo sind Erde und Äther für magische Verrichtungen geeigneter als dort draußen. Und wir, die Loge ›Zu den Rosenspiegeln‹, sind die einzig wahren und berechtigten Erben dieser erleuchteten Tradition. Was immer Meiste rin Barixa also einwenden mag: Unser Recht, den Drachenberg aufzusuchen und dort unsere Zeremonien durchzuführen, ist unzweifelhaft und weitaus älter als alle angemaßten Ansprüche ihres Hexenbundes.«
Zeremonien?, wunderte sich Marian. Wollten die Männer nicht einfach nur Lehm vom Hexenhügel holen? Doch es war ein schlechter Zeitpunkt, um darüber nachzudenken: Der Großmächtige Meister wies Ritter Gunter an, den Durchgang zum Bannwald zu öffnen.
»Wir bleiben eng beisammen«, befahl der Meister. »Und Vorsicht mit der Scheibe!«
Mit einem rostigen Stöhnen schwang das Tor auf. Die Männer führten Pechfackeln mit sich und einen flachen Gegenstand, der in ein dunkles Tuch gehüllt war. In ihren schwarzen Umhängen sahen sie wie riesige Fledermäuse aus.
Die Scheibe, dachte Marian. Aber wollen sie denn …?
Weiter kam er nicht. Der Famulus hielt den Atem an und wich tiefer in die Dunkelheit zurück. Seine gesamte Aufmerksamkeit galt dem Meister und den drei Lichtträgern.
»Hier entlang.« Meister Justus streckte seinen Arm mit der fauchenden Fackel ostwärts aus. »Und haltet die Augen auf!«
Hintereinander marschierten sie in den Wald. Äste und Reisig knirschten unter ihren Stiefeln. Die Bäume ächzten und knarrten. Zu sehen war fast überhaupt nichts – selbst die Fackeln warfen nur ein paar flackernde Schatten in die Dunkelheit.
Julian wartete, bis die Männer ein Dutzend Schritte Vorsprung hatten. Dann huschte er, hinter Bäumen und Felsbrocken Deckung suchend, geduckt hinter ihnen her. Allmählich wurde ihm doch mulmig zumute. Wenn er nicht genügend Abstand hielt, würden ihn die Logenbrü der bemerken. Wenn er zu weit zurückfiel, lief er Gefahr, in einem Moorloch zu versinken und elendiglich umzukommen.
Es gab im Bannwald nämlich weder Weg noch Steg. Selbst im Sonnenlicht wären die Moorlöcher schwer zu erkennen gewesen – eine dichte Schicht aus Laub und Reisig bedeckte überall den Boden. Und
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