Gößling, Andreas
Boden. Zwei Schaufeln steckten in der rötlich schimmernden Erde daneben. Offenbar hatten die Lichtträger dort den lebenskräftigen Lehm gewonnen, den sie für die Erschaffung der Golems brauchten.
Aber sie hatten sich keineswegs damit begnügt, Lehm in ein Behältnis zu schaufeln, um es eilends in ihre Behausung zurückzuschaffen. Im Kreis der Fackeln lagen sechs Figuren mit menschlichen Umrissen am Boden. Sie waren sehr viel größer als die Lehmpuppen, die Julian vorher im Keller von Meister Justus erblickt hatte – beinahe wie ausgewachsene Männer. Ihre Leiber und Gliedmaßen waren ansehnlich geformt – sicherlich das Werk der kunstfertigen Brüder Benno und Bardo. Ebenso wie die Körper sahen auch ihre Gesichter vollkommen gleich aus. Sternförmig angeordnet, lagen sie allesamt auf dem Rücken vor dem Drachenmaul, und ihre Köpfe bildeten die Mitte des lehmroten Gestirns. Ihre Augen waren geschlossen. Es sah beinahe so aus, als ob sie im Schlaf lächelten.
Und im nächsten Moment erwachen würden.
46
Behutsam zog Gunter von Croplinsthal das dunkle Tuch fort. Die Überreste des Pfortenglases kamen zum Vorschein, an das steinerne Drachenmaul gelehnt. Die Bleifassung war vollständig erhalten, allerdings von der Hitze der Flammen verformt. Doch weitaus stärker mitgenommen war die Glasscheibe selbst – ein Sammelsurium von Scherben, die teilweise nur noch lose in der Fassung befestigt schienen.
Aus den Schaufelstielen und einigen starken Ästen hatten die Schmiede unterdessen ein notdürftiges Gestell gezimmert – einen Schemel auf vier schrägen Beinen, mit einem viereckigen Rahmen, wo sonst die Sitzfläche gewesen wäre.
Vorsichtig hoben sie die lädierte Dämonenpforte an und setzten sie in den Rahmen. Die Holzkonstruktion ächzte bedrohlich. Sie nahmen das Gestell mitsamt dem Pfortenglas, traten zwischen die liegenden Lehmleiber und stellten es so in die Mitte des Sterns, dass die Scheibe über den Köpfen der Golems schwebte.
Selbst im dürftigen Fackelschein und aus einer Entfernung von einem Dutzend Schritten sah Marian mit erschreckender Deutlichkeit, dass die Dämonen, die Meister Justus in das Pfortenglas gespiegelt hatte, auch in den Bruchstücken noch immer gefangen waren. Ohyrion und Astometh, wie sie laut Elisha Asmol hießen. Der blutrote Dämon von der Form einer Adlerfeder und der schwefelgelbe, der die Umrisse einer langen, biegsamen Schlange aufwies. Beide Geister bewegten sich rastlos in der Scheibe hin und her.
Glitten von einer Scherbe zur nächsten, wobei ihre Bewegungen in den Rissen zwischen den Stücken merklich ins Stocken gerieten.
Das ist unmöglich, dachte Marian, das kann nicht sein, es darf einfach nicht. Heute war – selbst in Julians Welt – erst der 31. August. Noch ganze neun Tage bis zu dem verfluchten 9.9., an dem doch die Erschaffung der Go lems erst über die Bühne gehen sollte.
Warum dann heute schon, verdammt noch mal! Julians innere Stimme schrie es mit solcher Erbitterung, dass der Famulus vor Schreck zusammenfuhr. Mach was da gegen, Julian, los!
Aber der Famulus biss nur die Zähne zusammen, aus Angst, dass sein Gewissen sich auch noch seiner Sprechwerkzeuge bemächtigen könnte. Dann wäre es wirklich aus und vorbei mit mir, dachte er – wenn meine innere Stimme all das laut herausschreien würde, was sie bisher glücklicherweise nur in meinem Innern ruft.
Währenddessen hatte der Großmächtige Meister zwei Messingschalen unter seinem Umhang hervorgezogen. Er stellte sie auf den Boden unter dem Pfortenglas, wo sie zwischen all den Golemköpfen nur mühsam Platz fanden. Dann förderte er zwei kleine Beutel zutage, gab aus dem einen etwas Pulver in die linke, aus dem anderen etwas Staub in die rechte Schale und erhob sich wieder.
»Wir fangen an«, sagte er. »Die gesamte Erde mit all ihren Reichen und Schätzen wird unser sein. Kein Land, keine Armee dieser Welt kann sich mir fürderhin widersetzen – meine Golems werden sie alle in den Staub stampfen.«
Erneut begann die innere Stimme des Famulus zu schreien und zu wehklagen, aber Julian achtete nicht mehr darauf. Gebannt sah er zu, wie Meister Justus aus dem Fackelkreis trat und die Brüder Bardo und Benno es ihm gleichtaten. Nur Gunter von Croplinsthal verblieb im Ring der Lichter und nun begann der schwarzbärtige Rit ter die sechs Golems feierlich zu umkreisen. Dazu rief er ein ums andere Mal in schleppendem Singsang: »Aus heiliger Erde bist du geformt, Golem – steh auf!«
Nachdem er
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