Gößling, Andreas
wie er in der Familie seit jeher genannt wurde.
Auch bei Marians Vater Christian hieß Marthelm immer nur »der Psychopath« oder »der Irre aus dem Moor«. Daddy Chris hatte ihm schon vor Jahren strengstens verboten, jemals Kontakt mit dem Urgroßonkel aufzunehmen. Genauso hatte es bereits sein eigener Vater, Marians Opa Johann, gemacht, als Christian noch klein gewesen war. Marian hatte sich immer an dieses Verbot gehalten – nur als Daddy Chris ihm letzte Woche auch noch untersagen wollte, mit Linda zur Beerdigung zu fahren, da hatte er Einspruch erhoben. Wie konnte es jetzt noch gefährlich für ihn sein, nach Croplin zu fahren? Marthelm war schließlich tot und sein Sarg verschwand in diesem Moment vor ihrer aller Augen in der Erde.
Warum Marthelm überhaupt zeit seines Lebens als gefährlicher Verrückter beschimpft und von sämtlichen Angehörigen des Hegendahl’schen Clans wie ein Alien gemieden worden war, hatte Marian sowieso nie verstanden. Wie es aussah, war er doch neben Christian der einzige Individualist in einem Haufen eingebildeter Spießer gewesen.
Warum also hatte ausgerechnet Daddy Chris kein gutes Haar an seinem Großonkel gelassen? Dabei galt doch er selbst als Loser und Outsider und wurde von all den erfolgreichen und wohlhabenden Onkels und Tanten von oben herab angesehen.
Rätselhaft, dachte Marian. Die sieben alten Männer in ihren Schurzen und Schärpen bildeten nun einen feierlichen Kreis um das Grab. Sie fassten sich bei den Händen, und der Mann an der Stirnseite, der offenbar ihr Anführer war, rief mit lauter Stimme:
»Erhabener Baumeister des Universums, wir bitten dich – nimm Meister Marthelm gnädig auf!«
Mit einem Schlag wurde Marian klar, was es mit den sieben Männern dort drüben auf sich hatte. Warum sie diese hohen Hüte, die Schärpen und Schurze voll geheimnisvoller Zeichen trugen. Es sind Freimaurer, dachte er, und sein Herz begann rasch und erwartungsvoll zu klopfen. In seinen Büchern über Magie und Geisterbeschwörung, Alchimie und künstliche Kreaturen waren ihm diese mysteriösen Bruderschaften schon mehr als einmal begegnet. Marthelm Hegendahl war also ein Freimaurer, sagte sich Marian, und nicht nur das – er war der Meister dieser Logenbruderschaft gewesen. Eingeweiht in all die tiefgründigen Geheimnisse, denen die Freimaurer angeblich seit Jahrhunderten nachspürten.
Aufmerksam sah und hörte er nun zu, während die Freimaurer am offenen Grab von ihrem alten Meister Abschied nahmen. Die sechs Männer, die den Sarg herbeigetragen hatten, zündeten jeder eine große Kerze an und stellten sie vor sich auf die Erde nieder. Der siebte – ihr neuer Meister, Marthelms Nachfolger, wie Marian annahm – öffnete eine kleine, schwarze Kiste, die neben ihm am Boden stand. Er nahm etwas heraus, das auf den ersten Blick wie eine weiße Kugel aussah. Doch als Marian genauer hinsah, stockte ihm der Atem – der alte Mann hielt einen Totenschädel in Händen.
Er hob seine Arme und präsentierte seinen Mitbrüdern den Schädel. »So gehen wir alle dahin«, rief er.
Die anderen Freimaurer wiederholten murmelnd im Chor: »So gehen wir dahin.« Sie schlugen sich auf die Brust und stießen dumpfe Klagelaute aus. »Hu, hu, dahin, dahin.«
»Schluss jetzt mit dem Mummenschanz«, hörte es Marian aus dem Hegendahl’schen Pulk zischen. »Die sollen lieber endlich das Testament rausrücken«, maulte ein anderer Trauergast. Aber die Logenbrüder nahmen keinerlei Notiz von diesen pietätlosen Zwischenrufen.
Ihr Meister bückte sich erneut und nahm ein dickes, in Leder gebundenes Buch und einen Kranz mit saftig grünen Blättern aus dem schwarzen Kasten. Er schlug die offenbar uralte Schwarte auf, setzte den Totenschädel hinein und krönte ihn mit dem Blätterkranz. Dann hob er sein makabres Kunstwerk wieder mit beiden Händen empor und rief in heiterstem Tonfall: »Und so kehren wir wieder, Brüder!«
»So kehren wir wieder!«, antworteten sie in hellem Singsang. »So kehren wir wieder!«
Die sieben alten Männer hatten vorhin schon seltsam beschwingt gewirkt – nun kamen sie Marian geradezu ausgelassen vor. Wie konnte das sein? Sie hatten ihren Meister verloren – aber anstatt diesen Verlust zu betrauern, lachten und riefen sie durcheinander, schüttelten sich die Hände und klopften sich gegenseitig auf die Schultern. So als ob sie wirklich das unergründlichste aller Geheimnisse gelüftet hätten: wie man Zeit und Tod besiegen konnte. Wie man als Leiche beerdigt
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