Gößling, Andreas
ein kleines Schloss mit verschnörkelten Türmchen zu sehen war, umgeben von endlosen Wäldern und Bergen.
»Natürlich will ich mit euch kommen.« Carmen schob alles – Broschüre, Bilder, Landkarten – von sich fort. Eigentlich hatte sie aufspringen und hinauf in ihr Zimmer laufen wollen. Aber dann blieb sie sitzen, wo sie saß, die Hände ihres Vaters auf den Schultern. »Das ist also eure wundervolle Neuigkeit«, sagte sie leise.
»Und offenbar ist ja alles schon beschlossen, oder?«
»Bisher haben weder Georg noch ich irgendwas unterschrieben«, sagte Maria. »Aber wir müssen beide bis übermorgen zusagen, sonst erhalten andere Bewerber den Zuschlag. Und du hast Recht, Carmen: Wir sind entschlossen diese einzigartige Chance zu nutzen.« Sie begann Carmens Hand zu tätscheln und Carmen ließ den Kopf hängen und fing leise an zu weinen.
»Sicher interessiert es dich, wann das ganze Unternehmen losgehen soll.« Georg räusperte sich, ließ endlich ihre Schultern los und begann wieder in dem riesigen Wohnzimmer auf und ab zu wandern.
»Glücklicherweise haben ja hier in Deutschland gerade die Ferien angefangen und im August ist auch die internationale Schule in Flores geschlossen. Wir haben also vier ganze Wochen Zeit, uns in Guatemala einzugewöhnen, bevor für uns alle drei dort der Alltag beginnt.«
»Vier Wochen?«, wiederholte Carmen. »Du meinst doch nicht wirklich…?«
»Doch, cariña«, sagte ihre Mutter in munterem Tonfall. »Jetzt gehen wir erst einmal schlafen – es ist schon bald drei Uhr früh.
Gleich morgen fangen wir an unsere Siebensachen zusammenzupacken. Und in acht Tagen starten wir in unser großes Abenteuer.«
»Aber… aber«, stammelte Carmen und überlegte verzweifelt, durch welchen Einwand sie diese Pläne noch vereiteln könnte. »Wie kann ich denn dort in die Schule gehen?«, rief sie aus. »Ich kann ja gar kein Guatemaltekisch!«
»Keine Sorge, Schatz.« Hinter ihr lachte Georg auf und zündete sich gleichzeitig ein Zigarillo an. »Du wirst mit der Sprache besser zurechtkommen als ich – sie sprechen dort Spanisch.«
Plötzlich sah Carmen die vier kakaohäutigen Jungs wieder vor sich. Wie sie am Isarufer um das Feuer gekauert und ihre fremdartige Musik gemacht hatten. Wie sie sich in melodischem Singsang unterhalten hatten. Und wie sie den abscheulichen Bertie überwältigt hatten – ohne erkennbaren Kraftaufwand und ohne sich irgendwie aufzuspielen. Ob diese Musiker aus Guatemala waren?
Carmen wühlte in ihrer Handtasche herum, fand endlich ein Taschentuch und schniefte hinein. Auch ihr Handy war halb aus der Tasche gerutscht. Ihr Blick fiel auf das Display – sie hatte eine SMS.
Hinter ihr ging immer noch Georg auf und ab und paffte sein Zigarillo. Dabei redete er leise mit Maria, die im Türrahmen stand und gähnte.
Sei nicht sauer. Nico
Und da sah sie auch ihn wieder vor sich – Nico, wie er tatenlos zugesehen hatte, als Bertie sich auf die friedlichen Fremden stürzte. Wie er starr an ihr vorbeigeschaut hatte. Wie er mit seinem hirnlosen Kumpel in der Dunkelheit verschwunden war.
Ich werd dich schrecklich vermissen. Adiós – Carmen
2
Niemand konnte hochnäsiger dreinschauen als die blonde Gritta.
Zuerst hatte sich Carmen gefreut, dass das Mädchen mit dem lauten Lachen während des endlosen Atlantikflugs neben ihr saß. Aber diese Freude war ihr bald vergangen.
Gritta war ein Jahr älter als sie und kam aus Starnberg. Mit ihren Eltern und dem kleinen Bruder Jo flog sie schon zum dritten Mal nach Mexiko – »Vier-Sterne-Klub, all inclusive«, wie sie mit lässiger Handbewegung erklärte. »Und wo macht ihr Urlaub?«
Der Flieger nach Cancún – laut Georg ein »nicht mehr ganz jugendfrischer Jumbo« – war bis auf den allerletzten Platz besetzt.
Hunderte aufgekratzter Touristen, die sich auf die Karibik freuten, auf Sonne und Surfen, Strandflirts und Piña Colada. Es war Ende Juli, gerade hatten die Ferien begonnen und laut Maria konnten sie von Glück sagen, dass sie überhaupt noch drei Tickets ergattert hatten.
»Urlaub?«, wiederholte Carmen und schaute ihre Sitznachbarin
so verachtungsvoll wie möglich an. »Meine Eltern sind Wissenschaftler. Wir ziehen für drei Jahre nach – «
Weiter kam sie nicht. Gritta brach in fürchterliches Gelächter aus – heiser und schrill wie ein nervenschwaches Pferd. »In Mexiko wohnen?«, stieß sie hervor. »Das war für mich der Alptraum! Ständig diese klebrige Schwüle – und all die schmierigen
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