Gößling, Andreas
Typen, die einen anbetteln – und außer Sonne, Meer und Ananas gibt’s absolut nichts!« Gritta schüttelte sich heftig – ob vor Gelächter oder Ekel, war nicht ganz klar, aber Carmen hatte so oder so genug von ihrer Nachbarin. Und von ihrem Reiseziel erst recht.
»Nicht Mexiko«, sagte sie leise. »Wir ziehen nach Guatemala.«
Grittas Hand erstarrte mitsamt der Marmeladensemmel vor ihrem rosarot geschminkten Mund. »Nicht dein Ernst!«, rief sie aus und schickte ein kurzes Wiehern hinterher. »Guatemala? Das ist doch – he, Hansi!«, schrie sie ihrem Vater zu, der drei Reihen vor ihnen saß und sich geduldig von Jo an den Haaren ziehen ließ. »Guatemala«, rief Gritta, »da kommen doch diese Ureinwohner her, die am Strand immer den Steinzeitschmuck verkaufen, oder?«
Papa Hansi wandte sich um und nickte ihnen mit verzerrtem Lächeln zu. Die Haare standen ihm zu Berge und Jo boxte ihm jauchzend seine kleinen Fäuste aufs Ohr.
Mittlerweile hatte Gritta die Aufmerksamkeit des halben Fliegers auf sich gezogen, was sie nur noch stärker anzuspornen schien.
»Diese Zwerge mit den Affengesichtern – das ist Guatemala!«, rief sie und wieherte kräftig. »Und da zieht sie hier« – sie packte Carmens Hand und schwenkte sie wie eine Trophäe – »hin, das arme Ding!«
Carmens Kopf fühlte sich an wie ein Schnellkochtopf in Betrieb.
Ihre Eltern saßen mindestens zehn Reihen weiter vorn und konnten ihr nicht beistehen. Aber sie war schließlich kein kleines Kind mehr, das ohne Mamas Hilfe verloren war. Und wenn sie sich nicht einmal gegen dieses blonde Pferd verteidigen konnte – wie sollte sie dann im guatemaltekischen Dschungel überleben? »All-inclusive-Urlaub ist was für Spießer«, erklärte sie und entzog Gritta ihre Hand. »Wenn du garantiert nichts von Ländern und Leuten mitbekommen willst, fahr ruhig weiter in deine Klubs.«
»Ach, so bist du drauf.« Gritta sprach plötzlich bedeutend leiser.
»Abenteuer, Selbstverwirklichung, Leben am Limit, ja?« Sie wieherte kurz und offenbar ein wenig eingeschüchtert.
Carmen würdigte sie keiner Antwort mehr. Gerade aufgerichtet, saß sie auf ihrem Fensterplatz, sah auf das rollende Meer tief unter ihnen hinab und wünschte, sie könnte ihren eigenen Worten glauben.
Na klar, diese Ferienklubs waren steril und künstlich und sahen immer gleich aus – aber mussten sie deshalb gleich in eine Blechbaracke am Rand des Dschungels ziehen? In ein Land, das zu den ärmsten dieser Erde gehörte? In dem die Hälfte der Bevölkerung weder lesen noch schreiben konnte und in selbst gebauten Lehm- und Holzhütten lebte? Das hatten jedenfalls Georg und Maria erzählt. Sie selbst hatte sich bisher geweigert auch nur einen Blick in all die Bildbände und Reiseführer zu werfen, die ihre Eltern ihr ans Herz gelegt hatten.
Selbstverwirklichung und Abenteuer – ich pfeif drauf, dachte Carmen. Aber vielleicht würden ja auch ihre Eltern über kurz oder lang merken, dass es eine Riesendummheit war, in dieses Urwald-städtchen Flores zu ziehen. Ihre Mutter war doch von München begeistert gewesen und immer so gern auf der vornehmen Theatinerstraße flaniert. Ja, bestimmt würde es auch Maria nicht lange in Flores aushalten, sagte sich Carmen, schloss die Augen und schlief mit diesem tröstlichen Gedanken ein.
In München waren sie um acht Uhr morgens gestartet. Als ihr Jumbo nach neunstündigem Nonstop-Flug landete, war es in Cancún neun Uhr vormittags – und Carmens innere Uhr spielte verrückt. Die Sonne brannte vom Himmel, dabei musste es eigentlich Abend sein.
Carmen taumelte die Stufen zum Rollfeld hinunter und fühlte sich gleichzeitig überdreht und todmüde. Am Rand des Flughafens wuchsen Palmen und Orchideen. Die Luft fühlte sich an wie ein Handtuch, das mit heißem Wasser vollgesogen war.
In der Ankunftshalle sah es nicht viel anders aus als in europäischen Flughäfen, nur bunter, exotischer, von fremden Gerüchen und Geräuschen erfüllt. Westlich gekleidete Leute schlenderten oder hetzten umher. Klimaanlagen stießen fauchend eiskalte Luft aus.
Über Lautsprecher wurden Flüge nach Rio de Janeiro oder Mexico City aufgerufen. Alle Leute waren braun gebrannt, die jungen Männer trugen Goldkettchen im offenen Hemd und zwinkerten Carmen zu. Und die Frauen waren aufgedonnert wie zur Party und wiegten sich bei jedem Schritt hin und her. Die Musik, die zwischen den Durchsagen aus den Lautsprechern plärrte, triefte allerdings vor Mandolinenschmalz.
Trotzdem
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