Gößling, Andreas
vier oder fünf Jahren –, hatte sie verkündet, dass sie für drei Monate nach Mexiko müsse und währenddessen ihre Großmutter auf Carmen aufpassen würde.
»Also, wir gehen schon mal rüber zur Party«, rief Bertie.
Er packte seinen Kumpel Nico am Arm und zog ihn mit sich fort, auf das große Feuer zu.
»Cariña?«, rief Maria. »Bist du noch dran?«
»Die Party ist öde«, sagte Carmen. Sie warf Lena, die neben ihr stand, einen Blick zu. Ihre Freundin verdrehte die Augen und nickte.
»Bis gleich, Mama – Lena und ich wollten sowieso gerade nach Hause fahren.«
Carmen schaltete ihr Handy ab. Die vier Musiker hatten ihre Instrumente unter die Arme geklemmt und schoben mit den Stiefeln Kieselsteine auf ihre Feuerstelle. Von dem großen Feuer schallten lautes Gelächter und zerfetzte Hip-Hop-Klänge zu ihnen herüber.
Nico macht sich gar nichts aus mir, dachte sie, wie könnte er mich sonst einfach hier stehen lassen? Plötzlich war ihr wieder zum Heulen zu Mute. Und was er nur an diesem abscheulichen Bertie fand? Der war ja ein richtiger Fremdenhasser! Wie sollte das denn zusammenpassen? Schließlich war sie selbst – mit ihrer spanischen Mutter – eine halbe Ausländerin.
Sie hakte sich bei Lena unter. Der mitfühlende Blick ihrer Freundin tat ihr gut. Langsam folgten sie den Jungs mit den leuchtend bunten Ponchos, die an der Isar entlang zur Stadt zurückgingen.
»Sie haben uns sogar schon Fotos geschickt – hier, sieh nur.« Georg fächerte die Bilder in seiner Hand auf wie ein Kartenspiel. Dann warf er sie mit Schwung vor Carmen auf die Tischplatte.
Zu dritt saßen sie am Wohnzimmertisch des großen Hauses am Münchener Stadtrand, das Carmens Eltern vor zwei Jahren gemietet hatten – mitsamt allen Möbeln, Teppichen und sogar mit den Bildern an den Wänden. Mitternacht musste lange schon vorbei sein. Der Tisch war über und über bedeckt mit Landkarten, Büchern und Foto-grafien, die Georg und Maria nach und nach herbeigeschleppt hatten.
»Der Marktplatz von Flores«, sagte Maria. »Da vorn, in dem schmalen Haus gegenüber der Kirche, ist das Büro meines archäologischen Instituts.« Mit blutrot lackiertem Fingernagel pickte sie auf ein Bild und schob es gleich wieder beiseite, um ein anderes Foto aus dem Stapel zu ziehen. »Und da – die Ausgrabungsstätte draußen im Wald, mit dem Jeep ungefähr zwei Stunden von Flores.«
»Aber…«, sagte Carmen.
»Und das hier«, sagte Maria schnell, »ist unser Haus.«
Erschrocken sah Carmen auf das grünstichige Foto. Es zeigte einen Bungalow mit bröckelnder Fassade und flachem Dach, dem Anschein nach nicht viel größer als eine Doppelgarage, umgeben von wucherndem Dschungelgrün.
»Aber, Maria…«, sagte Carmen.
»Es ist eine wunderbare Chance für uns beide«, sagte ihre Mutter. Georg war aufgesprungen und marschierte wie ein Jaguar im Käfig hinter ihnen auf und ab. »Das erste Mal, dass dein Vater und ich im selben Land an einem großen Projekt mitarbeiten können.
Georg wird den Bau eines Kraftwerks in der Nähe des Petén-Sees leiten, während ich…« Sie strahlte Carmen an. »Für mich geht ein Traum in Erfüllung, cariña. Einige Kilometer südlich von Tikal sind Spuren einer weiteren großen Maya-Stadt gefunden worden. Ich kann von Anfang an bei den Ausgrabungen dabei sein.«
»Der Haken dabei ist nur«, fügte Georg hinzu, »dass wir beide uns für drei Jahre verpflichten müssen. Und dass sich erst heute herausgestellt hat, dass sie uns wirklich beiden eine Chance geben wollen.« Er war hinter Carmen stehen geblieben und legte ihr seine Hände auf die Schultern. »Deshalb haben wir dir auch so lange nichts von der ganzen Sache erzählt, Carmen. Ich hoffe, du siehst uns diese Geheimniskrämerei nach. Immer noch besser, als dich mit einer Sache zu beunruhigen, aus der dann vielleicht gar nichts geworden wäre.«
»Aber ich will nicht«, gelang es Carmen endlich einzuwerfen.
Ihre Mutter sah sie von der Seite her erst erschrocken und dann mit gerunzelter Stirn an.
»Du musst auch nicht, Schatz«, sagte ihr Vater sanft. »Natürlich kommt das alles ein bisschen plötzlich, aber so ist das nun manchmal im Leben. Denk in aller Ruhe darüber nach. Und wenn du partout nicht mit uns nach Guatemala mitkommen willst, kannst du auch bis zum Abitur hier in Deutschland bleiben. Genauer gesagt – in diesem Internat im Allgäu.« Er beugte sich über sie und schob eine Landkarte beiseite. Eine Hochglanzbroschüre kam zum Vorschein, auf der
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