Gößling, Andreas
schöpfte Carmen ein wenig Mut. Vielleicht hatte sie sich ihre Zukunft doch viel zu düster ausgemalt?
Als sie aus einiger Entfernung das vertraute Wiehern hörte, winkte sie Gritta mit neuer Hoffnung zu. Es würde schon alles nicht so arg werden.
Hinter ihren Eltern lief sie durch Hallen und Gänge. Mehrmals fragte Maria nach dem Weg und mit jeder Treppe, jeder Biegung wurde ihre Umgebung schäbiger. Carmen konnte kaum mehr die Augen aufhalten. Aber sie hätte auch am liebsten nichts mehr gesehen, denn der exotische Glanz der Ankunftshalle lag weit hinter ihnen.
Endlich erreichten sie einen winzigen Raum mit grauen Wänden und kaputten Plastikstühlen. Die Luft war zum Ersticken, denn auch die Klimaanlage, falls es überhaupt eine gab, war kaputt. Hinter einem Schalter standen drei dicke Frauen, die in kaum verständlichem Spanisch unentwegt Flüge ausschrien oder Verspätungen an-kündigten. Die Namen der meisten Zielorte hatte Carmen noch niemals gehört – Santa Ana, San José, San Pedro Sula. Die Lautsprecher pfiffen und jaulten.
Auf den Plastikstühlen und am Boden saßen ärmlich gekleidete Leute, deren Gepäck aus schadhaften Koffern und Plastikbeuteln bestand. Die meisten waren von kleiner, gedrungener Gestalt, mit schwarzen Haaren und dunkler Haut. Viele trugen billige westliche Kleidung, einige Frauen hatten Gewänder in leuchtenden Farben an, die Carmen an die Ponchos der Musikanten vom Isarstrand erinner-ten. In völligem Schweigen hockten oder kauerten sie eng beieinander und verständigten sich nur ab und an durch Gesten oder Blicke.
An der Fensterfront zum Rollfeld hin stand eine Gruppe junger Leute mit Rucksäcken, an denen Outdoor-Flaschen und Turnschuhe baumelten. Es waren drei Jungen und zwei Mädchen, vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre alt – US-Amerikaner, wie Carmen annahm. Einen Moment lang überlegte sie zu ihnen hinüberzugehen und sie zu fragen, ob sie auch nach Guatemala weiterflogen. Aber dann fühlte sie sich doch zu müde, zu überwältigt von all den neuen Eindrücken und vom Durcheinander ihrer Gefühle. Hoffnung und Wut, Verzweiflung und Mut. Wie auch immer, dachte Carmen – sie gehörten schon nicht mehr derselben Welt an. Diese Jugendlichen würden nach ein paar abenteuerlichen Wochen in ihre vertrauten westlichen Städte zurückkehren.
Carmen ergatterte einen Plastikstuhl und blieb apathisch sitzen, bis Maria ihr auf die Schulter tippte: »Unser Flug, cariña.«
Die Motoren ihrer kleinen Propellermaschine dröhnten und brummten. Jede trübe Fensterscheibe, jede zerdepperte Plastikklappe, jede einzelne rostige Schraube im Flugzeug vibrierte und klapperte, wimmerte und seufzte. Von den Brillen und Armbanduhren, Knochen und Zähnen der zehn oder zwölf Passagiere zu schweigen, die in ihren schmierigen Plastiksitzen klebten und das unablässige Rütteln und Schütteln stumm über sich ergehen ließen.
Mit jedem Luftloch, in das ihre Maschine sackte, sank auch Carmens Herz ein wenig tiefer. Sie hatte wieder einen Fensterplatz erwischt, in der ersten Reihe direkt hinterm Cockpit. Diesmal saßen Maria und Georg neben ihr und beide strahlten so ausdauernd vor sich hin, dass es fast schon zum Lachen war. Oder zum Heulen, je nachdem. Carmen zog es vor, aus dem Fenster zu sehen.
Draußen war allerdings nur wenig zu erkennen, was teilweise an der trüben Scheibe lag, vor allem aber an der Gegend, über die sie seit einer halben Stunde flogen. Hunderte Quadratkilometer gleichförmigen Dschungels, der wie eine gigantische Grünkohlplantage aussah. Und irgendwo in diesem grünen Einerlei waren angeblich die Ruinenstädte verborgen, von denen Maria so unermüdlich schwärmen konnte. Aber Carmen hasste nicht nur Ruinenstädte – sie verabscheute auch Grünkohl, roh oder gekocht, in Portionen und in Kubiktonnen erst recht.
Zu sehen waren weder Ruinen noch bewohnbare Häuser. Keine Hütten, keine Straßen, gar nichts. Dabei flogen, hüpften und schaukelten sie so tief über diesem Grünkohlozean, dass Carmen einmal ganz deutlich eine Art Rehe gesehen hatte, die in wilden Sprüngen über eine Lichtung setzte.
Vom Cockpit trennte sie nur ein zerschlissener Vorhang, dessen Überreste im Luftzug der überforderten Aircondition flatterten. Der Kopilot, ein dicker Mann mit puterrotem Kopf, redete unablässig auf den Piloten ein. Der war bleich wie der Tod und warf nur gelegentlich ein heiseres Dios miol ein. Nach jedem dieser Stoßseufzer arbeiteten beide Männer hektisch an ihren
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