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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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dort, »lebt in der Angst, die Herrlichkeit seines Innern durch Handlung und Dasein zu beflecken; und um die Reinheit seines Herzens zu bewahren, flieht es die Berührung der Wirklichkeit und beharrt in der eigensinnigen Kraftlosigkeit, 〈...〉 sein Tun ist das Sehnen, das 〈...〉 sich nur als verlornes findet; – in dieser durchsichtigen Reinheit seiner Momente eine unglückliche sogenannte schöne Seele, verglimmt sie in sich, und schwindet als ein gestaltloser Dunst, der sich in Luft auflöst.«
    So aber verhält es sich nicht mit Iphigenie. Sie will die Reinheit ihres Herzens bewahren, aber nicht im abgeschlossenen Tempelbezirk, sondern im Handeln gegenüber Thoas. Sie bewahrt ihre Selbstachtung indem sie Thoas achtet, der zugleich ihr Gegenspieler ist und den sie deshalb fürchten muß. Auf sie treffen jene Verse aus den »Zahmen Xenien« gerade nicht zu:
Halte dich nur im Stillen rein, / Und laß es um dich wettern; / Jemehr du fühlst ein Mensch zu sein, / Desto ähnlicher bist du den Göttern.
Sie kann sich nicht
im Stillen
rein erhalten, sondern will sich draußen bewähren im Weltgetriebe, doch ohne List und Betrug. Aus dem Stück wäre eine Tragödie geworden, wenn Iphigenies edle Offenheit, mit der sie dem König gegenübertritt, nicht belohnt, sondern bestraft worden wäre mit dem Vollzug des Menschenopfers. Belohnt wird sie, weil die Schönheit ihrer Seele offenbar ansteckend wirkt. Der Abgrund des möglichen Grauens schließt sich, die Szenerie der Grausamkeit wird zu einer utopischen Stätte der Humanität.
    Iphigenie verläßt den Tempelbezirk, doch das Stück insgesamt ist eine Art von Tempelbezirk, abgeschirmt gegen die Welt des drohenden Krieg, der Rekrutenaushebungen und der hungernden Strumpfwirker von Apolda. Deshalb ließ Goethe, wie bereits erwähnt, im Nebenzimmer musizieren, wenn er am Stück arbeitete. So war der Tempelbezirk des reinen Schreibens geschützt, und es kann sich das innere Leben ungehindert entwickeln.
    Jetzt versteht man, warum Goethe mit der ersten Prosafassung nicht zufrieden war und sie
nachlässig geschrieben
fand. Sie war nicht
rein
genug, der Rhythmus hatte sich noch nicht zum Vers geglättet, und daran arbeitete er noch bis zur Italienischen Reise. Erst in Rom vollendete er diesen Tempel der Schönheit,
reich an
innerem
Leben, aber arm an äußerem.
Schattenhaft ist in diesem inneren Leben des Stückes auch Biographisches zu erkennen. Das Schwester-Bruder-Verhältnis: Orest findet in den Armen Iphigenies Ruhe. In Goethes Leben war es umgekehrt. Da suchte die Schwester Ruhe beim Bruder. Wie Orest mußte auch Goethe mit Schuldgefühlen kämpfen, der Schwester und den zurückgewiesenen Freunden Lenz und Klinger gegenüber. Die liebevolle Darstellung der Freundespaares Orest–Pylades erhält Farbe von Goethes Freundschaft mit dem Herzog. Der Zauber und die besänftigende Wirkung Iphigenies lassen an Charlotte von Stein denken.
    So ist das in ferne Zeiten und Räume entrückte Spiel voller Anklänge an Goethes gegenwärtiges Leben. Und doch kam es ihm bisweilen fremd vor, und es war ihm nicht möglich, sich in die entsprechende Stimmung der Reinheit zu versetzen. Als er den Herzog bei den Kriegszügen gegen das revolutionäre Frankreich begleitete und man unterwegs bei den Jacobis in Pempelfort einkehrte, baten die Freunde ihn, aus der »Iphigenie« vorzulesen.
Das wollte mir aber gar nicht munden,
schreibt er in der »Campagne in Frankreich«,
dem zarten Sinn fühlt’ ich mich entfremdet.
Was meint er mit dem
zarten Sinn
? Wohl doch das Gefühl der Reinheit, das sich im Tumult des Kriegsgeschehens nicht bewahren ließ. Auch für ihn selbst galt, was er nach der ersten Aufführung im Blick aufs Publikum notiert hatte:
Iph. gespielt. gar gute Wirkung davon besonders auf reine Menschen.
    Das aber bedeutet: nur in seltenen Stunden kam ihm das Stück wieder nahe. Es war doch verteufelt human.
    Anmerkungen

Fünfzehntes Kapitel
    Die Idee der Reinheit. Goethes Tao. Die Kreuzigung Woldemars.
    Kränkung Jacobis. Die zweite Schweizer Reise. Friederike und Lili:
    Zwei Bereinigungen. Die schöne Branconi und die Verwirrung:
    »Über allen Gipfeln ist Ruh«. Goethe und Lavater.
    Religion auf dem Prüfstand.
    Der
zarte Sinn,
aus dem die »Iphigenie« entstand, war die Idee der Reinheit. Sie hatte für Goethe damals existentielle Bedeutung. Als er am 7. August 1779 kurz vor Antritt der Reise in die Schweiz im Tagebuch Rückschau auf sein Leben hält – eine der wenigen

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