Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
was man gerade tut. Es war diese Achtsamkeit, diese geradezu taoistische Disziplin des Alltags, die Herder damals an Goethe bewundernd registrierte: »Er hat uns neulich einen neuen, sehr schönen Band von seinem ›Wilhelm Meister‹ und ein andermal den Anfang einer neuen, sehr vortrefflichen Arbeit 〈die Abhandlung über den Zwischenkieferknochen〉 vorgelesen. Die Arbeit und die Stunden sind wohl die einzigen, die den trefflichen Menschen ihm selbst zurückgeben; wiewohl er auch in der kleinsten und sogar gehässigsten anderweiten Beschäftigung mit einer ganzen Ruhe wohnet, als ob sie die einzige und eigenste für ihn wäre.«
Diesen Grundzug, der sich bei Goethe nicht von selbst verstand sondern den er erst mühsam lernte und einübte, wird von ihm später in den »Maximen und Reflexionen« so formuliert:
Wer tätig sein will und muß hat nur das Gehörige des Augen Blicks zu bedenken und so kommt er ohne Weitläufigkeit durch.
Die lyrische Sehnsucht, die stets über den Augenblick hinausschweift, wird nicht preisgegeben, aber mit der Problematik des täglichen Lebens und seinen Anforderungen so verknüpft, daß sie den Umweg über die jeweilige Tätigkeit gehen muß. In »Wilhelm Meisters Wanderjahren« erklärt Leonardo:
die Sehnsucht verschwindet im Tun und Wirken.
Doch sie verschwindet nicht rückstandfrei, es bleibt ein unbefriedigter Rest erhalten, der neue Tätigkeiten speist und neue Imaginationen freisetzt. Reinheit im Bereich des Handelns bedeutet also Hingabe an die Aufgaben des Tages. Nur so ist praktische Meisterschaft möglich.
In der Poesie ist eine andere Reinheit, eine andere Meisterschaft gefordert. Sie ist zwar eine andere als bei den praktischen Aufgaben, aber sie besitzt doch ähnliche Merkmale. Darüber denkt Goethe im Tagebuch in dem Augenblick nach, als er seine Imperative der Reinheit formuliert. Wie der Agronom und Landschaftspfleger Batty, der zur Zeit in Weimar herumreist und seine landwirtschaftlichen Verbesserungsvorschläge entwickelt, muß man, schreibt er, mit sicherem Griff das Sachgemäße herausfinden. Eine solche Sachgemäßheit gilt für jedes Geschäft, aber eben auch für die Poesie. Sie soll den inneren Reichtum des Gegenstandes aufschließen und zur Erscheinung bringen. Ein Thema, ein Stoff, eine Idee haben eine Art innere Entelechie. Sie verlangen eine bestimmte Form der Entfaltung. Der geübte Künstler spürt das dieser Entelechie Gemäße. Er ist
rein
von persönlicher Willkür. Er dient dem Werk, das sich durch ihn hervorbringen lassen will. Auch dabei muß man den richtigen Griff beherrschen; es ist wie beim Handwerker an der Töpferscheibe, bei dem
bald ein Krug bald eine Schale nach seinem Willen hervorkommt
, und man doch den Eindruck hat, Krug und Schale würden von sich aus zu Dasein und Sichtbarkeit drängen. Goethe dachte auch an den Kunsttischler Johann Martin Mieding, das Faktotum des Weimarer Theaters. Mieding verstand es mit seinem handwerklichen Geschick alles anzufertigen, was die Bühne braucht, damit die Bretter wirklich die Welt bedeuten: Kulissen, Gewänder, Beleuchtung, andere mechanische Vorrichtungen zur Herstellung von Illusionen. Liebevoll hat Goethe bei Miedings Tod 1782 seiner gedacht:
Was alles zarte, schöne Seelen rührt / Ward treu von ihm, nachahmend, ausgeführt: / Des Rasens Grün, des Wassers Silberfall / Der Vögel Sang, des Donners lauter Knall, / Der Laube Schatten und des Mondes Licht – / Ja selbst ein Ungeheur erschreckt’ ihn nicht.
Ironie klingt an in diesem Lob für die handwerksmeisterlichen Voraussetzungen der poetischen Effekte. Es ist Ironie gegen die Prätentiösen, die sich zu viel auf ihre Inspirationen einbilden. Es gibt eben auch eine handwerkliche Reinheit, der sich der Poet auf seine Weise würdig zu erweisen hat.
Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, weshalb es kurz vor Reiseantritt zu jener Szene aggressiven Spotts über den jüngst erschienenen Roman »Woldemar, eine Seltenheit aus der Naturgeschichte« des Freundes Fritz Jacobi kam. Denn auch dabei ging es um die ominöse Reinheit. Es war bei einem geselligen Zusammensein auf Schloß Ettersburg im August 1779. Man hatte aus Jacobis Roman vorgelesen, Goethe hatte parodistische Verse vorgetragen, war auf einen Baum geklettert und hatte das Buch dort oben zum Schrecken der Leser und zur Abschreckung der Vögel festgenagelt. Es gibt von diesem Vorgang keinen direkten Augenzeugenbericht. Doch in einem späteren Brief an Lavater bestätigte Goethe das
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