Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
längeren Textpassagen dort –, gibt er zu erkennen, wie sehr die Idee der Reinheit zu diesem Zeitpunkt sein Leben beherrscht:
Zu Hause aufgeraumt meine Papiere durchgesehen und alle alten Schalen verbrannt. Andre Zeiten andre Sorgen. Stiller Rückblick aufs Leben auf die Verworrenheit, Betriebsamkeit Wißbegierde der Jugend, wie sie überall herumschweift um etwas befriedigendes zu finden. Wie ich besonders in Geheimnissen, dunklen Imaginativen Verhaltnissen eine Wollust gefunden habe. Wie ich alles Wissenschaftliche nur halb angegriffen und bald wieder habe fahren lassen, wie eine Art von demütiger Selbstgefalligkeit durch alles geht was ich damals schrieb. Wie kurzsinnig in Menschlichen und göttlichen Dingen ich mich umgedreht habe. Wie des Tuns, auch des Zweckmäßigen Denkens und Dichtens so wenig, wie in zeitverderbender Empfindung und Schatten Leidenschaft gar viel Tage vertan, wie wenig mir davon zu Nutz kommen und da die Hälfte des Lebens nun vorüber ist, wie nun kein Weg zurückgelegt sondern vielmehr ich nur dastehe wie einer der sich aus dem Wasser rettet und den die Sonne anfängt wohltätig abzutrocknen. Die Zeit daß ich im Treiben der Welt bin seit 75 Oktbr. getrau ich noch nicht zu übersehen. Gott helfe weiter und gebe Lichter daß wir uns nicht selbst soviel im Wege stehen. Lasse uns von Morgen zum Abend das gehörige tun und gebe uns klare Begriffe von den Folgen der Dinge. Daß man nicht sei wie Menschen die den ganzen Tag über Kopfweh klagen und gegen Kopfweh brauchen und alle Abend zu viel Wein zu sich nehmen. Möge die Idee des reinen die sich bis auf den Bissen erstreckt den ich in Mund nehme, immer lichter in mir werden.
Eine merkwürdige Aufzeichnung. Vor dem Aufbruch zieht Goethe Bilanz. Er überblickt sein Leben bis zur Übersiedlung nach Weimar. Die jüngste Zeit
getraut
er sich gar nicht zu
übersehen
. Das bisherige Leben, soweit er es überblickt, war nicht
rein
. Was bedeutet das? Nehmen wir zum besseren Verständnis seine Charakterisierung des angeblich Unreinen des bisherigen Lebens. Es war, schreibt er,
Verworrenheit, Betriebsamkeit,
den
Imaginativen Verhaltnissen
mit
Wollust
hingegeben, kein
Zweckmäßiges Denken und Dichten
, sondern
zeitverderbende Empfindung und Schatten Leidenschaft
. Geht man von diesem Gegensatz aus, erscheint das Reine als die Tüchtigkeit des realitätszugewandten Handelns und Denkens, die Klarheit, Zweckmäßigkeit, der praktische Realitätssinn. Gewiß gehört auch Leidenschaft dazu, aber nicht für imaginative Schattenwesen, sondern für die Wirklichkeit, was immer diese nun im Einzelnen bedeuten mag. Aus dem Wasser, wo er keinen Grund mehr unter den Füßen hatte, habe er sich auf festen Boden gerettet, wo ihn die Sonne gnädig abtrocknet. Das Bodenlose als das Unreine. Damit verbindet sich die Assoziation des Weinrausches, aus dem er mit Kopfweh erwacht.
Handelt es sich bei der Idee der Reinheit um eine Attacke auf die schöpferische Einbildungskraft und auf die Verwirrungen, die sie anrichtet? Bedeutet Reinheit, der Wirklichkeit fest ins Auge zu blicken und ihr Genüge zu tun? Läuft es etwa auf eine Reinigung von der Poesie hinaus? Kaum zu glauben, vor allem wenn man bedenkt, daß er eben noch an seiner »Iphigenie« geschrieben und sie zur Aufführung gebracht hatte, dieses poetische Weihespiel der Humanität, das ja von der Idee der Reinheit durchzogen ist.
Schwerlich kann es sich um einen Angriff auf die schöpferische Einbildungskraft überhaupt handeln. Vielmehr verlangt die Idee der Reinheit, die Sphären säuberlich zu scheiden: Hier die Wirklichkeit, dort die Poesie, und dann noch die Besonnenheit, die beiden Bereiche nicht miteinander zu verwechseln und den Ansprüchen der jeweiligen Sachgebiete und Lebensfeldern gerecht werden. Da gibt es etwa den Eigensinn des
Regierens
und den ganz anderen Eigensinn der Poesie. Die Kunst solcher Trennung könnte gemeint sein mit der Formulierung:
Lasse uns von Morgen zum Abend das gehörige tun und gebe uns klare Begriffe von den Folgen der Dinge
.
Bei solcher reinlichen Trennung der Sphären greift die Idee der Reinheit in jeden Bereich über, entfaltet dort aber jeweils einen eigenen Sinn: das praktische Handeln und Verhalten soll rein werden, bis auf den
Bissen den ich in Mund nehme
, das heißt: eine vernünftige, sogar diätetische Lebensordnung, geregelt, pünktlich, jede Aufgabe in vollem Ernst bewältigen, sich den
Pflichten des Tages
stellen, den Schwerpunkt immer auf das verlegen,
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