Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
deiner Meinung
, sagt sie. Doch als sie Thoas gegenübersteht, obsiegt nach anfänglichem Zögern ihr Wille zur Reinheit. Sie will Thoas nicht betrügen, sie offenbart ihm den listigen Fluchtplan, bringt damit sich selbst und Orest und Pylades in höchste Gefahr. Sie riskiert viel mit ihrem Appell an den Edelmut des Barbarenkönigs. Er soll sie freiwillig ziehen lassen. Den fatalen Zirkel, wonach Mißtrauen neues Mißtrauen hervorruft und Feindseligkeit auf Feindseligkeit antwortet, will sie durchbrechen und die Wechselwirkung des Wohlwollens an seine Stelle setzen. Sie vertraut Thoas und hofft, daß er ihr Vertrauen belohnt. Sie behandelt ihn als Menschen und möchte menschlich behandelt werden. In der Wechselseitigkeit des Wohlwollens, worauf Iphigenie setzt, verbirgt sich aber ein Ungleichgewicht. Iphigenie und ihr Bruder gewinnen die Freiheit und die Heimkehr, Thoas aber erleidet einen für ihn schmerzlichen Verlust. Iphigenie gibt ihm zu bedenken, daß er dafür doch entschädigt würde durch das Bewußtsein, gut gehandelt zu haben. Sie appelliert an seine Selbstachtung und stellt am Ende die Situation so dar, als ob es sich für Thoas um eine Chance zur Selbstveredelung handele, die man keinesfalls verstreichen lassen dürfe. Es ist fast schon ein Sophismus, wenn Iphigenie ihm sagt:
Sieh uns an! Du hast nicht oft / Zu solcher edlen Tat Gelegenheit
.
Thoas willigt endlich ein. Er fühlt sich in seinem Stolz herausgefordert, er will beweisen, daß auch der
Barbar
die Stimme der Wahrheit und der Menschlichkeit
hören kann. Doch Iphigenie, in der Gewißheit ihres Triumphes, ist mit dem Befehl
So geht!
nicht zufrieden. Thoas soll sie nicht bloß widerwillig ziehen lassen, sondern sie will seinen Segen, damit künftig zwischen ihrer und seiner Welt ein wechselseitiges Gastrecht, Wohlwollen und treues Angedenken herrsche. Und auch dazu ringt sich Thoas durch, indem er anheimstellt, eine gebräuchliche Abschiedsformel als Segen aufzufassen.
Lebt wohl!
ist sein letztes Wort, und damit endet dieses Weihespiel erlesener Humanität.
Die Idee der Reinheit durchherrscht das Stück. Iphigenie will ihr Herz
unbefleckt genießen
und Pylades entgegnet ihr, daß im Umgang mit Menschen keiner sich
rein und unverworren
halten könne. Gerade deshalb ist für Iphigenie der
reine
Tempelbezirk so bedeutsam. Diese Idee der Reinheit wird sich in Goethes Denken noch reich entfalten. Reinheit steht in einem Spannungsverhältnis zu Fülle und Vielfalt der Welt. Gewöhnlich ist dort das Durchmischte, die Gemengelage. In der Welt, in der Natur ist eigentlich nichts
rein
. Es bedarf einiger Anstrengungen, künstlicher Zurichtungen, um das Reine herauszubringen. Erforderlich ist eine Scheidekunst, um das Nichtdazugehörige oder Unpassende – genauer: was als solches definiert wird – auszuscheiden. Das Reine versteht sich nicht von selbst. Es ist nicht einfach vorhanden, sondern man muß zuvor entschieden haben, was denn als das eigentliche Element zu gelten habe, das vor Verunreinigung geschützt oder von ihr befreit werden soll. Dieses eigentliche Element hat Goethe später einmal im Anschluß an Friedrich Wilhelm Joseph Schelling das
selbstische Prinzip
genannt. Damit ist die Kraft des Individuums gemeint, sich in seiner unverwechselbaren Individualität zu bewahren, auch und gerade dort, wo es den mannigfaltigen Einflüssen und Verwicklungen ausgesetzt ist. Reinheit meint also auch die Bewahrung des Eigenen. Erst das Individuum, das sich als ein solches bewahrt und behauptet, ist zu einem Selbst geworden.
Nun ist aber das so verstandene Selbst stets auf Weltumgang angewiesen, und darum kommt alles darauf an, sich auf die Welt einzulassen, ohne sich in ihr zu verlieren. Im Spannungsverhältnis von Selbst und Welt ist ein doppeltes Mißlingen möglich. Versteifung, Verhärtung, Verengung einerseits – Auflösung andererseits; blinder Egoismus hier –
Verzettelung
dort.
Reine mittlere Wirkung zur Vollendung des Guten und Rechten ist sehr selten; gewöhnlich sehen wir Pedanterie, welche zu retardieren, Frechheit, die zu übereilen strebt
.
Pedanterie
meint in diesem Zusammenhang den verengten Selbstbezug, und
Frechheit
den zerstreuten Weltbezug.
Wenn Iphigenie ihre Reinheit nur im Tempelbezirk bewahren wollte, würde sie in die Gefahr der Weltlosigkeit geraten. Es ist dies die Gefahr der schönen Seele, wie sie Georg Wilhelm Friedrich Hegel in der »Phänomenologie des Geistes« eindringlich beschrieben hat. Ein solches Wesen, heißt es
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