Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Goethes Werk nicht vereinzelt da. Faust versinkt nach Gretchens Tod in einen Schlaf, aus dem er tatenfroh und frei von Schuldgefühlen wieder erwacht. Egmont überwindet seine Todesangst – im Schlaf. Schiller zum Beispiel hätte so etwas nie akzeptieren können. Als Goethe ihn 1802 bat, die »Iphigenie« für die Bühne zu bearbeiten, nahm er an dieser Szene Anstoß. Ihm gefiel es nicht, daß Krisen verschlafen und nicht durch freie Handlungen bewältigt werden. Doch Goethe hielt es mit dem Schlaf des Vergessens, diesen gnädigen Wirkungen der Natur. Für Goethe wurzelt der Mensch in seiner Vergangenheit, doch so, daß es ihm möglich bleibt, sich den Angeboten und Ansprüchen der Gegenwart zu öffnen. Wenn die Vergangenheit zu viel Macht besitzt – das Wüten der Erinnyen ist eine solche Überwältigung durch Vergangenheit – stirbt das gegenwärtige Leben ab. Das Gewissen, wie bei Kant, zum inneren Statthalter des Absoluten aufzuwerten, erschien Goethe als ein Exzeß des Protestantismus. Noch im hohen Alter rühmte er die Kunst des Vergessens, an Zelter schrieb er als Achtzigjähriger:
Man bedenke daß mit jedem Atemzug ein ätherischer Lethestrom unser ganzes Wesen durchdringt, so daß wir uns der Freuden nur mäßig der Leiden kaum erinnern. Diese hohe Gottesgabe habe ich von jeher zu schätzen, zu nützen und zu steigern gewußt.
Orest also ist geheilt, die Erinnyen haben keine Macht mehr über ihn. Jetzt muß nur noch Iphigenie aus den Händen des Thoas befreit werden. Bei Euripides ist sie es, die listige Befreiung ersinnt, bei Goethe sind es Orest und Pylades, und Iphigenie zögert. Das ist der Moment, in dem sich ihre über das gewöhnliche Maß hinausgehende Humanität zeigen soll. Auch sie muß sich erst dazu durchringen. Im Tempelbezirk, ihrem Schutzraum, ist es leicht,
rein
zu bleiben und sich unlauterer Mittel zu enthalten. Deshalb fürchtet sie, diesen Raum zu verlassen. Sie ist eine schöne Seele, die davor zurückschreckt, sich zu beschmutzen.
O bleibe ruhig, meine Seele! / Beginnst du nun zu schwanken und zu zweifeln? / Den festen Boden deiner Einsamkeit / Mußt du verlassen! Wieder eingeschifft / Ergreifen dich die Wellen schaukelnd, trüb’ / Und bang verkennest du die Welt, und dich.
Der Plan von Orest und Pylades sieht vor, daß Iphigenie das Artemis-Bild ans Meer schaffen läßt, vorgeblich, um es dort zu reinigen, in Wirklichkeit aber, um es aufs wartende Schiff zu schaffen und sich selbst auch dort in Sicherheit zu bringen. Thoas soll also hinters Licht geführt werden. Im Dialog zwischen Iphigenie und Pylades stoßen die Idee der Reinheit und des gewöhnlichen Weltgeschäftes aufeinander, humanitärer Idealismus und skeptischer Realismus liegen im Streit.
IPHIGENIE
Die Sorge nenn’ ich edel, die mich warnt,
Den König, der mein zweiter Vater ward,
Nicht tückisch zu betrügen, zu berauben.
PYLADES
Der deinen Bruder schlachtet, dem entfliehst du.
IPHIGENIE
Es ist derselbe, der mir Gutes tat.
PYLADES
Das ist nicht Undank, was die Not gebeut.
IPHIGENIE
Es bleibt wohl Undank; nur die Not entschuldigt’s.
PYLADES
Vor Göttern und vor Menschen dich gewiß.
IPHIGENIE
Allein mein eigen Herz ist nicht befriedigt.
PYLADES
Zu strenge Ford’rung ist verborgner Stolz.
IPHIGENIE
Ich untersuche nicht, ich fühle nur.
PYLADES
Fühlst du dich recht, so mußt du dich verehren.
IPHIGENIE
Ganz unbefleckt genießt sich nur das Herz.
PYLADES
So hast du dich im Tempel wohl bewahrt;
Das Leben lehrt uns, weniger mit uns
Und andern strenge sein; du lernst es auch.
So wunderbar ist dies Geschlecht gebildet;
So vielfach ist’s verschlungen und verknüpft,
Daß keiner in sich selbst, noch mit den andern
Sich rein und unverworren halten kann.
Auch sind wir nicht bestellt uns selbst zu richten.
Was Pylades vorbringt, ist eine Auffassung, zu der sich auch Goethe häufig bekannte, etwa in den späten Versen:
Des Menschen Tage sind verflochten, / Die schönsten Güter angefochten, / Es trübt sich auch der freiste Blick
oder in dem lakonischen Ausspruch:
Der Handelnde ist immer gewissenlos, es hat niemand Gewissen als der Betrachtende.
Die Gemengelage des gesellschaftlichen Lebens fordert Kompromisse, bisweilen auch den Gebrauch von fragwürdigen Mitteln bis hin zur Gewalt, um sich zu wehren, sich zu behaupten oder Nahestehende zu verteidigen. Es gibt Gründe genug, nicht allzu streng mit seinem Urteil zu sein. Einen Moment lang neigt auch Iphigenie dieser Sichtweise zu:
Fast überred’st du mich zu
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