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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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also des Kehraus und der Wiederkehr der verlorenen Zeit:
Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten! / Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt. / Versuch’ ich wohl euch diesmal fest zu halten? / Fühl’ ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt? / Ihr drängt euch zu! nun gut, so mögt ihr walten, / Wie ihr aus Dunst und Nebel um mich steigt; / Mein Busen fühlt sich jugendlich erschüttert / Vom Zauberhauch der euren Zug umwittert.
    »Zueignung« heißt das Gedicht. Wem aber ist es eigentlich zugeeignet? Einem künftigen geneigten Publikum? Davon ist nicht die Rede. Direkt angesprochen wird die ganze imaginäre Welt der Figuren, die das Drama bevölkern:
Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten!
Doch sie ziehen ihn nicht nur in das Zauberreich jener versunkenen Welt des früheren Schaffens, als die ersten Entwürfe und Szenen zum »Faust« entstanden. Diese geschaffene Welt bringt auch die Erinnerung an die wirkliche Welt von damals herauf,
die Bilder froher Tage
, als er den Freunden und Geliebten die ersten Texte zum »Faust« vorlas und darüber sprach. Der Kreis von damals ist inzwischen verstreut, manche sind gestorben, wie die Schwester Cornelia oder der Freund Merz, manche sind noch nahe, aber fremd geworden, wie Herder, manche hat er ganz aus den Augen verloren, wie Lenz.
Sie hören nicht die folgenden Gesänge, / Die Seelen, denen ich die ersten sang, / Zerstoben ist das freundliche Gedränge, / Verklungen ach! der erste Wiederklang.
Das entstehende Werk gehörte einst dem Freundeskreis, dort war sein angestammter Ort. An seine Stelle ist nun eine anonyme Öffentlichkeit getreten.
Mein Leid ertönt der unbekannten Menge
. So kann man den Eindruck haben, die Zueignung sei adressiert an jenen inzwischen versprengten und auch abgeschiedenen Kreis der ehemaligen Lebensgefährten, die mit diesem Werk auch an die eigene Jugendzeit erinnert werden, als könne um dieses Werk herum die alte Gemeinschaft noch einmal aufleben. Doch sie ist inzwischen genauso imaginär wie das Stück selbst. Die letzte Strophe des Gedichtes bringt eine überraschende Wende. Wenn auch die einstige Wirklichkeit, in der der »Faust« entstand und wirkte, verschwunden und damit imaginär geworden ist, so gilt für das Stück selbst das Umgekehrte. Hier ist alles zunächst imaginär, doch wenn man sich ihm zuwendet, zieht es einen in seinen Bann und wird immer wirklicher. Das einst Wirkliche wird schattenhaft und die Schatten werden wirklich:
Ein Schauer faßt mich, Träne folgt den Tränen, / Das strenge Herz es fühlt sich mild und weich; / Was ich besitze seh’ ich wie im weiten, / Und was verschwand wird mir zu Wirklichkeiten
. Es handelt sich wohl um eine doppelte Zueignung, an die einstigen Gefährten, die aus seinem Leben verschwunden sind, und an jene
schwankenden Gestalten
des Werkes, die in die Wirklichkeit drängen.
    In diesen Wochen des Frühsommers 1797, da ihm das Ferne nahe rückt, arbeitet Goethe also an den Portalen, die in den »Faust« hineinführen. Das ist zunächst die »Zueignung«, dann das »Vorspiel auf dem Theater« und schließlich der »Prolog im Himmel«. Es handelt sich um drei Portale, die jeweils einen anderen geistigen Raum eröffnen. In der »Zueignung« ist es das eher intime Kammerspiel zwischen Erinnerungen und den schattenhaften Gestalten des Werks; im »Vorspiel auf dem Theater« geht es um ein Werk für die Bretter, welche die Welt bedeuten und wo auch Gewinn und Verlust auf dem Spiel steht; hier spricht der Theaterintendant Goethe. Und im »Prolog im Himmel« richtet sich der Blick von ganz oben auf das Welttheater und auf einen Faust, der wie im spanischen Barock eine Spielfigur ist zwischen Gott und Teufel.
    In diesen bedeutsamen Wochen vor der Abreise öffnen sich für Goethe die verschiedenen Dimensionen des Stückes, es erscheint ihm dadurch noch geräumiger als bisher gedacht, aber auch labyrinthischer. Das versetzt ihn in eine schöpferische Unruhe, und es dämmert ihm, daß ihm unter der Hand ein Monstrum heranwächst aus Spielstück und Lesedrama, Volkstheater und Mysterienspiel, Theaterulk und Metaphysik, ein heiliger Spaß. Ihm schwirrt der Kopf, und deshalb richtet er an Schiller, der seinerseits immer klaren Kopf behält, die Bitte:
Nun wünschte ich aber daß Sie die Güte hätten die Sache einmal, in schlafloser Nacht, durchzudenken, mir die Forderungen, die Sie an das Ganze machen würden, vorzulegen, und so mir meine eignen Träume, als ein wahrer Prophet, zu erzählen

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