Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
werden. Das kannte er früher noch nicht. Seine Neugier war grenzenlos, und grenzenlos war auch das Kraftgefühl, sich alles anverwandeln zu können, wenn es ihm denn lohnend erschien. Und was ihn nichts anging, ließ er schroff oder lässig beiseite; es kümmerte ihn nicht, und er ließ es sich auch nicht aufschwatzen. Was wichtig und bedeutsam für ihn war, wollte er selbst entscheiden. Jetzt aber macht er Bekanntschaft mit dem Gefühl, von der
Weltbreite
womöglich überwältigt zu werden. Die Unbekümmertheit früherer Jahre ist weg. Er legt sich eine Strategie zurecht. Er will nicht, wie es die schlechten Poeten tun, vor dem Andrang der Wirklichkeit sich zu den
Phantomen
des Innenlebens flüchten. Das erlaubt er sich nicht, er will offen bleiben, doch es soll eine kontrollierte Offenheit sein. Wenn die Wirklichkeit einen zerstreut und man am Ende nicht mehr weiß, wo einem der Kopf steht, kommt es darauf an, sich auch in der sozialen Welt wie beim Botanisieren zu bewegen, ruhig seinen Beobachtungen hingegeben, auch wenn man mitten im Urwald ist. Goethe geht systematisch vor, nichts wird dem Zufall überlassen:
Ich habe mir daher Akten gemacht
,
worin ich alle Arten von öffentlichen Papieren die mir eben jetzt begegnen, Zeitungen, Wochenblätter, Predigtauszüge, Verordnungen, Komödienzettel Preiskurrante einheften lasse und sodann auch sowohl das, was ich sehe und bemerke als auch mein augenblickliches Urteil einhefte, ich spreche sodann von diesen Dingen in Gesellschaft und bringe meine Meinung vor, da ich denn bald sehe in wie fern ich gut unterrichtet bin, und in wie fern mein Urteil mit dem Urteil wohl unterrichteter Menschen übereintrifft. Ich nehme sodann die neue Erfahrung und Belehrung auch wieder zu den Akten, und so gibt es Materialien, die mir künftig als Geschichte des äußern und innern interessant genug bleiben müssen
. Das anfängliche Grauen vor der Weltbreite verwandelt sich in eine wunderliche Pedanterie bei der Weltbewältigung. Beispielsweise notiert er am Vierwaldstätter See angesichts des erhabenen Bergmassivs:
die Rubrik dieser ungeheuern Felsen darf mir unter meinem Reise-Kapiteln nicht fehlen. Ich habe schon ein paar tüchtige Aktenfaszikel gesammelt
〈
...
〉
Man genießt doch zuletzt, wenn man fühlt, daß man so manches subsumieren kann:
Auf dem Umweg über die Pedanterie hatte Goethe wieder seine Lust auf die Welt neu entdeckt und genießt nun die wiederhergestellte
Leichtigkeit.
Der erste längere Zwischenaufenthalt war Frankfurt. Bis dorthin hatte Goethe Christiane und August mitgenommen, um sie beide der Mutter vorzustellen, die den »Bettschatz« des Sohnes und das Enkelkind hingebungsvoll umsorgt. In Frankfurt interessieren ihn nicht so sehr die alten Bekannten, sondern die neueren Spuren der Geschichte. Er steht vor der Ruine des großväterlichen Hauses, das bei der letzten Kanonade der Franzosen zerstört wurde. Überhaupt haben die französischen Truppen eine Spur der Verwüstung gezogen in der alten städtischen Bürgerkultur. Auch das ist eine Wirkung der Revolution. Man sieht Schutt und Ruinen und weiß doch,
daß das Ganze wieder von einem neuen Unternehmer gekauft und hergestellt
werden würde. Die Spekulanten liegen schon auf der Lauer. Frankfurt wird wieder emporkommen, aber so, daß man es nicht mehr wiedererkennt. Einstweilen ist alles noch voll von Erinnerungen: Hier spielte er als Kind, dort führte der stolze Zug des Kaisers vorbei auf dem Weg zur Krönung.
Widersprüchliche Gefühle. Einerseits angezogen vom Zauber einer verschwindenden Welt, die noch die Atmosphäre der eigenen Jugendzeit in sich bewahrt. Das sind dichte Augenblicke großer Intensität. Sie wecken schöpferische Lust. In den Ruinen der Stadt seiner Kindheit denkt Goethe an seinen »Faust«. Er könnte sofort wieder damit anfangen, die Stadt inspiriert ihn poetisch. Doch sie ist ihm auch ein fataler Ort der Zerstreuung. Man lebt hier
in einem beständigen Taumel von Erwerben und Verzehren
〈...〉
Ich glaube sogar eine Art von Scheu gegen poetische Produktionen, oder wenigstens in so fern sie poetisch sind,
bemerkt zu haben, die mir aus eben diesen Ursachen ganz natürlich vorkommt
.
Die Poesie verlangt, ja sie gebietet Sammlung, sie isoliert den Menschen wider seinen Willen, sie drängt sich wiederholt auf und ist in der breiten Welt
〈...〉
so unbequem wie eine treue Liebhaberin.
Die Stadt also als Ort der Versuchung. In der Welt des Geschäftssinns und der
Zerstreuung
ist es
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