Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
verbirgt sich die vielleicht schlimmste Prüfung, der Goethe bisher ausgesetzt war. Zum ersten Mal hatte der Boden seiner Existenz gewankt. Sieht man einmal von seinen Kriegserlebnissen 1792/93 ab, so war es ihm bisher immer gelungen, um sich her einen homogenen Raum zu schaffen, eine Welt, die durch die Ausstrahlung seiner Persönlichkeit die seine war oder doch bald wurde. Fremdes, Störendes vermochte er entweder fernzuhalten oder in seine Welt irgendwie einzuschmelzen. Die Schlacht bei Weimar, die Plünderung, die Katastrophe des Weimarer Staates – das sind Störungen, gegen die man sich nicht mehr behaupten kann.
Tatsächlich hatte Goethe auch Glück gehabt. Zum einen war es ein Glück, daß einer der französischen Husarenoffiziere, denen er auf dem Marktplatz begegnete, ein Sohn seiner früheren Geliebten Lili Schönemann war. Dieser Baron von Türckheim half mit, daß Goethe die bestmögliche Einquartierung bekam, den Marschall Michel Ney mit seiner Entourage. Doch der Marschall ließ auf sich warten. Und so drangen abends die »Löffelgardisten«, wie die einfachen Soldaten genannt wurden, ein, forderten Wein, Essen, randalierten, polterten und verlangten nach dem Hausherrn. Riemer schildert die dann folgende Szene: »Obgleich schon ausgekleidet und nur im weiten Nachtrock – der sonst scherzhaft Prophetenmantel von ihm genannt wurde – schritt er die Treppe herab auf sie zu, fragte was sie von ihm wollten 〈...〉 Seine würdige, Ehrfurcht gebietende Gestalt, seine geistvolle Miene schien auch ihnen Respekt einzuflößen«. Doch das hält nicht lange vor. Spät in der Nacht, der Marschall ist immer noch nicht eingetroffen, dringen sie mit gezückten Bajonetten ins Schlafzimmer des Hausherrn ein. Daß Goethe sich in diesem Augenblick in höchster Lebensgefahr befunden hatte, erfährt Riemer erst am anderen Morgen, und auch nicht von Goethe selbst, der darüber wie aus Scham schweigt. Auch später wird er nur andeutend davon sprechen oder schreiben können, etwa im Brief an den Herzog von Mitte Dezember:
Aber erlitten habe ich etwas
〈...〉
auch etwas physisches das mir noch zu nahe steht um es ausdrücken zu können
.
In dieser Situation, als ihm die Soldateska buchstäblich auf den Leib rückte, zeigte sich Christiane besonders tüchtig und geistesgegenwärtig. Sie erhob ein großes Geschrei und brachte einige handfeste Leute, die sich in Goethes Haus geflüchtet hatten, dazu, die betrunkenen und bewaffneten Kerle aus Goethes Schlafgemach hinauszudrängen. Christiane bewies auch die nötige Übersicht, als sie in den Stunden der Bedrohung die Ordnung im Hause notdürftig aufrecht erhielt. Der Hausherr hingegen war zeitweilig mit den Nerven am Ende. Heinrich Voß berichtet: »Göthe war mir in den traurigen Tagen ein Gegenstand des innigsten Mitleidens; ich habe ihn Tränen vergießen sehen: ›Wer, rief er aus, nimmt mir Haus und Hof ab, damit ich in die Ferne gehen kann?‹« Und wirklich war seine Lebensstellung in Gefahr, und auch das Schicksal des Herzogtums hing an einem seidenen Faden, als Napoleon erwog, es gänzlich zu zerschlagen. Goethe hatte sich innerlich bereits darauf vorbereitet, künftig von Autorenhonoraren und Vorschüssen leben zu müssen. In den
schlimmsten Augenblicken
, schreibt er an Cotta, habe er auf dessen
Bereitwilligkeit gehofft
.
Wie glimpflich Goethe davonkam, zeigte sich anderntags, als man erfuhr, wie es anderen ergangen war. Einige Häuser waren abgebrannt, Menschen waren in die Wälder geflüchtet, bei Meyer stand ein Pulverwagen vor der Tür, und der feinsinnige Mann mußte die ganze Nacht vor einer Explosion zittern. Bei der Witwe Herder hatten die Soldaten, weil sie sonst nichts fanden, unter den Manuskripten gewütet. Den Ridels war die ganze Hauseinrichtung zerstört worden, nur eine Kommode und eine silberne Teemaschine waren heil geblieben. Der hochbetagte städtische Schatullenverwalter hatte bei seiner Kasse gewacht. Er hätte, erzählt Goethe der neu nach Weimar übergesiedelten Johanna Schopenhauer,
nie ein größres Bild des Jammers gesehen, als diesen Mann im leeren Zimmer rund um ihn alle Papiere zerrissen und zerstreut, er selbst saß auf der Erde kalt und wie versteinert,
〈...〉
er sah aus wie König Lear, nur daß Lear toll war, und hier war die Welt toll
... Dem Maler Kraus, ein Vertrauter aus Goethes Jugendzeit, war das ganze Haus abgebrannt mit allen Bildschätzen, die es enthielt. Der alte, verzweifelte Mann starb bald darauf an den Folgen
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