Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Hegemonie anzuerkennen. Im Gespräch mit Riemer erklärte er:
Wenn Paulus sagt:
gehorchet der Obrigkeit, denn sie ist Gottes Ordnung,
so spricht dies eine ungeheure Kultur aus,
〈...〉
eine Vorschrift, die, wenn sie alle überwundenen jetzt beobachteten, diese von allen eigenmächtigen und unbilligen, zu ihrem eigenen Verderben ausschlagenden Verfahren abhalten würde
.
Man soll sich fügen und nicht in fruchtloser Opposition verbrauchen, das sei das Beste vor allem für die Entwicklung der Kultur. Das hielt Goethe auch den Patrioten entgegen, deren Zahl während der napoleonischen Herrschaft in den gebildeten Kreisen in Deutschland wuchs. Gegen sie sind die harschen Sätze aus einem Brief an Zelter vom 27. Juli 1807 gerichtet:
Wenn Jemand sich über das beklagt, was er und seine Umgebung gelitten, was er verloren hat und zu verlieren fürchtet, das hör’ ich mit Teilnahme
〈...〉
Wenn aber die Menschen über ein Ganzes jammern, das verloren sein soll, das denn doch in Deutschland kein Mensch sein Lebtag gesehen, noch viel weniger sich darum bekümmert hat; so muß ich meine Ungeduld verbergen, um nicht
〈...〉
als Egoist zu erscheinen.
Ein paar Sätze weiter erklärt Goethe, wie er das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen begreift. Für ihn kommt alles darauf an, daß der Einzelne sich in seiner Besonderheit entwickeln kann. Wenn man sich allzu sehr mit einem politischen Ganzen identifiziert, gerät man in die Gefahr des Kollektivismus. Das gilt aus seiner Sicht für die neu erwachte nationale Bewegung. Das Fehlen einer politischen Einheit im alten Deutschland erscheint ihm sogar positiv. Es sei ein Vorzug gewesen,
daß Deutschland
〈...〉
in seiner alten Verfassung den Einzelnen zuließ sich so weit auszubilden als möglich und Jedem erlaubte nach seiner Art beliebig das Rechte zu tun, ohne daß jedoch das Ganze jemals eine sonderliche Teilnahme daran bewiesen hätte
. Diese höhere Gleichgültigkeit des Ganzen gegenüber dem Einzelnen läßt sich also auch als Chance verstehen: solange man im Schatten dieser höheren Gleichgültigkeit existiert, kommt alles darauf an, was man um seiner selbst willen aus sich macht. Das ist Goethes konservative Liberalität. Als Kulturbürger möchte er in Ruhe gelassen werden von jenem ominösen Ganzen, wofür die Patrioten schwärmen. Zu diesem Ganzen hält er Abstand, denn Kunst und Wissenschaft haben ein anderes Ganzes als die Politik. Als Staatsbürger, gar als Staatsdiener ist er natürlich bereit, dem Staat zu geben, was des Staates ist. Aber auch nur das.
Das neue Ganze, mit dem Goethe es jetzt in der Gestalt des übermächtigen Napoleon zu tun bekam, war nun aber doch etwas, das ihn über das Politische hinaus zu faszinieren begann. In einem Brief an Knebel Anfang 1807 nennt er Napoleon
die höchste Erscheinung, die in der Geschichte möglich war, auf dem Gipfel dieser so hoch, ja überkultivierten Nation
.
Europa hatte beim kometenhaften Aufstieg Napoleons den Atem angehalten. Es grenzte ans Unglaubliche, wie hier ein starkes Ich sich über die Weltgeschichte emporschwingt. Daß die Philosophie des Deutschen Idealismus, vor allem bei Fichte, dem Ich eine solche Schlüsselrolle zuweisen konnte, ist nicht zu denken ohne jenes monumentale Napoleonische Ich, das so fern und zugleich so nahe war. Denn Napoleons europäische Eroberungs- und Raubzüge griffen in das Alltagsleben vieler Menschen in Deutschland ein. Napoleon war mehr als eine politische Realität, er war schon zu Lebzeiten ein Mythos. Das gilt für die Bewunderung, die ihm entgegengebracht wurde, und für den Haß, der ihm entgegenschlug. Die einen sahen in ihm die Verkörperung des Weltgeistes, die anderen einen Widergeist, eine Ausgeburt der Hölle. Aber jeder bekam die lebendige Anschauung von einer Macht, die nicht durch Tradition und Herkommen geheiligt ist, sondern sich einer charismatischen Persönlichkeit verdankt. Napoleons Karriere war das sinnfällige Beispiel eines politischen Aufstiegs aus dem Nichts. Die Repräsentanten der alten Mächte sahen in ihm einen Hochstapler auch dann noch, als sie von ihm besiegt wurden. Es war kein Zufall, daß zeitgleich mit Napoleons Aufstieg das geistige Europa sich von der Mode des tierischen Magnetismus, von Somnambulismus und Hypnose verzaubern ließ. Napoleon erschien als der große Magnetiseur, der auch über die Macht des Unbewußten gebot. Er kehrte das Untere nach oben und das Innere nach außen. In diesem Sinne nannte Goethe Napoleon
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