Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
erhellende Beobachtungen gemacht, aber noch keinesfalls eine vollständige Theorie dazu geliefert habe. Diese Theorie wird er wenige Wochen nach dem Abschied von Weimar entwickeln. Er hält sie für gelungen. Bei Goethe geht es um die
Taten und Leiden des Lichts
, bei Schopenhauer, könnte man sagen, geht es um die Taten und Leiden des Auges. Er konzentriert sich ganz auf die subjektiv physiologische Seite, auf die Frage also, wie die Farbe im Auge entsteht, nicht, was sie an sich selbst ist. Für Schopenhauer sind die Farberscheinungen das Resultat einer durch modifizierten Lichteinfall bewirkten unterschiedlichen Aktivität der Netzhaut. In diesem Zusammenhang übernimmt er Goethes Ganzheitsvorstellung. Da der Lichteinfall das Aktivitätspotential der Retina jeweils nur partiell beansprucht, so strebt die Retina danach, die zum Tätigkeitsoptimum fehlende Aktivität zu ergänzen: so kommt es zum komplementären Farbsehen und zu den sie begleitenden Harmoniegefühlen. Hier schließt sich Schopenhauer eng an Goethe an, die übrigen Aspekte aber möchte er auf sich beruhen lassen oder sie den Physikern und Chemikern anheimstellen, wie er überhaupt sich auf die Farben ja nur eingelassen hat, um dem verehrten Meister wenigstens auf diesem Gebiet nahe zu sein. Gewiß befindet er sich in der Rolle des Werbenden, doch er redet Goethe nicht nach dem Munde. Es kommt sogar zu einem verdeckten Kampf zwischen den beiden.
Die Geschichte dieses Kampfes beginnt, als Schopenhauer im Juli 1815 von Dresden aus seine inzwischen fertiggestellte Abhandlung »Über das Sehen und die Farben« als Manuskript an Goethe schickt mit der Bitte, dieser möge sie doch als Herausgeber der Öffentlichkeit bekannt machen. Goethe ist gerade unterwegs, die Antwort läßt auf sich warten. Schopenhauer wird ungeduldig und mahnt. Er wisse schon, schreibt er, daß für Goethe das Literarische Nebensache sei im Vergleich zu den anderen Tätigkeiten. Bei ihm aber sei es umgekehrt, »was ich denke, was ich schreibe, das hat für mich Wert und ist mir wichtig: was ich persönlich erfahre und was sich mit mir zuträgt, ist mir Nebensache«. Deshalb dringt er auf eine Antwort. Nach einigen Wochen, Schopenhauer hatte inzwischen schon fast resigniert, kommt endlich eine erste freundliche aber knappe Antwort, die eine ausführlichere, auf das Manuskript eingehende, in Aussicht stellt. Wieder vergeht ein guter Monat, bis Goethe am 23. Oktober 1815 antwortet. Er sei im Augenblick der »Farbenlehre« zu weit ferngerückt, um Differenzen, denn um die handle es sich doch wohl, austragen zu wollen. Schopenhauer möge sich inzwischen mit Professor Seebeck, einem Mitstreiter in gemeinsamer Farbensache, verständigen. Ihm werde er das Manuskript übergeben.
Schopenhauer empfindet das so, als würde er an einen Domestiken weitergereicht. Das fordert seinen Stolz heraus, und der beherrscht die Diktion jenes Riesenbriefes an Goethe vom 11. November 1815, in Hinsicht auf die Selbstcharakteristik wohl der bedeutendste Brief, den Schopenhauer je geschrieben hat. Selbstbewußt bis an die Grenze der Unhöflichkeit, und zugleich höchst respektvoll, tritt er dem entgegen, den er sich zu seinem Ersatzvater erwählt hat. Er verneigt sich vor ihm und betreibt doch zugleich unverhohlen eine massive Abwertung der Goetheschen »Farbenlehre«. Goethe, der sein Werk als neuen Typus von Theoriebildung verstand, mußte sich von Schopenhauer sagen lassen, er habe nur treffliche Beobachtungen gesammelt, doch noch keine richtige Theorie geliefert. »Vergleiche ich Ihre Farbenlehre einer Pyramide, so ist meine Theorie die Spitze derselben, der unteilbare mathematische Punkt, von dem aus das ganze große Gebäude sich ausbreitet, und der so wesentlich ist, daß es ohne ihn keine Pyramide mehr ist, während man von unten immer abschneiden kann ohne daß es aufhört Pyramide zu sein«. Schopenhauer konnte davon ausgehen, daß auch Goethe seinen Aristoteles kennt und daß ihm deshalb bekannt ist, daß das Wesen (Idee) einer Sache (Materie) in der Entelechie der Form liegt. Das Pyramidenbild läuft daher auf den Vorschlag hinaus, Goethe möge sein Werk doch als Materie ansehen, die erst vom Geiste der Schopenhauerschen Theorie zum Leben erweckt wird. Schopenhauers Selbstbewußtsein kommt in Fahrt, und so fließen dem jungen Philosophen auch Sätze wie die folgenden aus der Feder: »Ich weiß mit vollkommner Gewißheit«, schreibt er, »daß ich die erste wahre Theorie der Farbe geliefert habe,
Weitere Kostenlose Bücher