Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
die erste, so weit die Geschichte der Wissenschaft reicht«.
Man erinnere sich: Für Goethe ist die »Farbenlehre« dasjenige Werk, mit dem er sich
Superiorität über Viele
erworben zu haben glaubt, hier fühlt er sich als Napoleon im Reiche des Geistes. Und nun will ein noch nicht dreißigjähriger, unbekannter Philosoph dieses Werk überhaupt erst auf die Höhe der Theorie gehoben haben und will, der Gipfel der Unverschämtheit, diesen Kraftakt als Nebenarbeit geleistet haben. Goethe hat ein halbes Leben in die Farbenlehre gesteckt, und dieser junge Philosoph hat die Stirn zu schreiben: »Auch ich habe es 〈die Abhandlung über die Farben〉 immer, ein paar Wochen ausgenommen, nur als Nebensache behandelt, und trage weit andre Theorien als die der Farbe, beständig im Kopfe herum.«
Das Erstaunliche an Goethes Antwort auf einen solchen Brief ist die freundliche Gelassenheit und souveräne Ironie. Anspielend auf Schopenhauers philosophischen Subjektivismus schreibt er:
Wer selbst geneigt ist, die Welt aus dem Subjekt zu erbauen, wird die Betrachtung nicht ablehnen, daß das Subjekt, in der Erscheinung, immer nur Individuum ist, und daher eines gewissen Anteils von Wahrheit und Irrtum bedarf, um seine Eigentümlichkeit zu erhalten. Nichts aber trennt die Menschen mehr als daß die Portionen dieser beiden Ingredienzien nach verschiedenen Proportionen gemischt sind.
Schopenhauer will nicht wahrhaben, daß mit diesem Satz Goethes Urteil über die ganze Angelegenheit gesprochen und daß mehr nicht zu erwarten ist. Was aber erwartet Schopenhauer? Erwartet er, daß Goethe ihm schreibt: Ja, Sie haben meine verstreuten Beobachtungen zur wahren Theorie erhoben. Erstaunlich, junger Mann, wie Sie in wenigen Wochen meinem Lebenswerk die Krone aufgesetzt haben. Ich eile, Ihr Werk, das das meine erst in die Sonne rückt, der Öffentlichkeit bekannt zu machen?
Vielleicht hat Schopenhauer sich so etwas erhofft. Jedenfalls wünschte er für sein Farbenbuch den Segen des Ersatzvaters. Goethe nimmt die ihm angetragene Rolle nicht an. Aber er achtet diesen Schüler, der freilich allzu gerne als Lehrer auftritt. Und so schickt er ihm das Manuskript zurück mit der Bitte, die dort geäußerten Ansichten
ins Kurze
zu ziehen, damit er sie gelegentlich zitieren könne. Mit gnädiger Beiläufigkeit begegnet er diesem jungen Mann, der so ungeheure Dinge im Kopfe wälzt. Schopenhauers Farbenbuch erscheint nun ohne Goethes Segen.
In den »Tag- und Jahres-Heften« erinnert sich Goethe: Dr. Schopenhauer
trat als wohlwollender Freund an meine Seite. Wir verhandelten manches übereinstimmend mit einander, doch ließ sich zuletzt eine gewisse Scheidung nicht vermeiden, wie wenn zwei Freunde, die bisher mit einander gegangen, sich die Hand geben, der eine jedoch nach Norden, der andere nach Süden will, da sie denn sehr schnell einander aus dem Gesichte kommen.
Anmerkungen
Achtundzwanzigstes Kapitel
Erstes Kräftemessen mit Karoline Jagemann. Theaterstreit.
Arbeit an den »Wahlverwandtschaften«. Der Roman als »zweiter Teil
des Farbenwesens«. Die Chemie der menschlichen Beziehungen.
Wie frei ist die Liebe? »Das Bewußtsein ist keine hinlängliche Waffe«.
Die innere Natur als Schicksal. Abgrenzung von den Romantikern.
Metaphysik und Physik der Geschlechterliebe.
Natur als Abgrund. Entsagung.
Noch während Goethe dabei war, die »Farbenlehre« kapitelweise in den Druck zu geben, erlaubte er sich eine Abschweifung, die er einmal den
zweiten Teil der Farbenlehre
nennt. Am 11. April 1808 begann er einen zunächst als kürzere novellistische Einlage für »Wilhelm Meisters Wanderjahre« geplanten Text; es wurde daraus der Roman »Die Wahlverwandtschaften«, den Goethe gelegentlich als das Beste bezeichnete, was er bisher gemacht habe. Mit einigem Stolz schreibt er darüber in den Briefen. Zelter gegenüber hebt er eigens hervor, daß dieses Werk eigentlich nur dazu da sei, sich mit den
auswärtigen Freunden wieder einmal vollständig zu unterhalten
. Ein Roman für Rätselfreunde, den man mindestens dreimal lesen müsse, um ihn recht zu verstehen.
Ich habe viel hineingelegt,
schreibt er an Zelter,
manches hineinversteckt. Möge auch Ihnen dies offenbare Geheimnis zur Freude gereichen.
Im Sommer 1808, während des Kuraufenthaltes in Karlsbad, diktierte er den ersten Teil des Romans und konzipierte den Handlungsverlauf bis zum Ende. Die Ereignisse um die Begegnung mit Napoleon bedeuten eine erste Unterbrechung. Ende des Jahres 1808
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