Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
ebenfalls ihr Recht. Damit erhebt sich der Autor Goethe über seine Figuren, er ist einerseits Tasso, der Dichter, er ist aber auch Antonio der Weltmann. Er will in seiner Person die beiden Aspekte des Weltverhältnisses, das poetische und das realistische, zusammenhalten.
Goethe will zusammenhalten und verbinden, was die mächtigen Tendenzen des Zeitalters auseinanderreißen: analytischen Verstand und schöpferische Phantasie, abstrakte Begriffe und sinnliche Anschauung, künstliches Experiment und gelebte Erfahrung, mathematisches Kalkül und Intuition. Im Spannungsverhältnis von Poesie und Naturkunde will Goethe der Poesie ihr Heimatrecht im Reich der Wahrheit bewahren. Die
zarte Empirie
soll nicht ausgebürgert werden durch die robusten, herzlosen, aber pragmatisch erfolgreichen Verfahrensweisen der modernen Wissenschaften. Doch bei dem Abwehrkampf, den er glaubt ausfechten zu müssen, will er nicht zum Tasso werden, der gegen die Weltleute von vornherein auf verlorenem Posten steht. Er will nicht Grenzen gegen die Wissenschaft verteidigen, sondern er will poetischen Geist in die Wissenschaft hineintragen. Er will einer Wissenschaft, die sich epochal modernisiert, auf ihrem eigenen Terrain Machtansprüche streitig machen. Er will nicht verteidigen, sondern mit seiner Art Phänomenologie den Angriff ins Herz des Gegners tragen. Dabei läßt er sich leiten von seinem Persönlichkeitsideal. Das Erkennen soll sich dem Einklang der vielfältigen Strebungen und Anlagen des Menschen einverleiben lassen, Sinnlichkeit und Vernunft, Einbildungskraft und Verstand sollen zusammenwirken. Diese Anlagen sind eigentlich in einem ursprünglichen Gleichgewicht. Wer Wahrnehmungsprothesen zu Hilfe nimmt, etwa ein Teleskop oder ein Mikroskop, kann damit zwar Entdeckungen machen, doch
sein äußerer Sinn
wird
dadurch mit seiner innern Urteilsfähigkeit außer Gleichgewicht gesetzt
.
Goethe spürte hier etwas, das sich erst im modernen Medienzeitalter voll entfalten wird, nämlich die Unangemessenheit der Reaktionsweisen, wenn durch künstliche Mittel das Verhältnis von Nah und Fern sich verwirrt. So etwa wird die medial vergegenwärtigte entfernte Gefahr als naher Schrecken erlebt. Um sich der Ferne der Ereignisse zu vergewissern, ließ Goethe die Zeitungen eine Weile lang liegen, ehe er sie las. Für ihn war es noch selbstverständlich, daß die voneinander entfernten Lebenskreise nur abstrakt gesehen eine Gleichzeitigkeit haben. Man lebt in verschiedenen Zeiten, wenn man an verschiedenen Orten lebt, und was man von ferneren Orten erfährt, ist immer schon vorbei, wenn die Nachricht davon bei einem ankommt. Schon Goethe warnt vor der Entgrenzung der Eigensphäre, an die wir uns heute gewöhnt haben.
Ein Physiker schenkte Goethe einen kostbaren modernen Polarisationsapparat, der geeignet war, Newtons Theorie über die Entstehung der Farben zu bestätigen, denn er zerlegte das Licht in die Spektralfarben. Goethe weigerte sich beharrlich, den Apparat zu benutzen, ähnlich wie zwei Jahrhunderte zuvor die Heilige Inquisition das Fernrohr des Galilei zurückwies. Goethe lehnte in der Regel solche Auskünfte über die Natur ab, die man mittels einer Wahrnehmungsprothese und nicht mit unseren gesunden Sinnen erhält. Der Mensch, erklärte er, sei mit seinen normalen Sinnen
der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann
. Doch, wie schon gesagt, wenn es ihm paßte, bediente er sich durchaus der Apparate, um in mikro- oder makrokosmische Verhältnisse hineinzublicken, und er hätte wohl auch die modernen Kommunikationsmittel genutzt, auf kluge und lebensdienliche Weise.
Im Mai 1810 ist also das große Farbenwerk erschienen. Wochen und Monate vergehen, und es gibt, vom respektvollen Beifall der Freunde und Bekannten abgesehen, keine nennenswerte Reaktion. Goethe beobachtet das mit wachsendem Ingrimm. Zwanzig Jahre hatte der Berg gekreißt, und die Öffentlichkeit verhält sich nicht anders, als wäre eine Maus geboren worden. Einige Maler, unter ihnen besonders Philipp Otto Runge, lassen sich anregen, doch die wissenschaftliche Welt winkt ab, »Kenner werden nichts Neues finden«, schreibt die »Gothaische Gelehrte Zeitung«. In der literarischen Öffentlichkeit bedauert man die überflüssige Abschweifung, und in der politischen Welt hat man andere Sorgen. Dort fragt man vorwurfsvoll, warum denn Goethe sich nicht brennenderen Fragen der Zeit zuwende. Goethe empfindet das alles als eine Verschwörung des
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