Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Ausdünstungen, Geruch; im zarteren, an Bezüge der körperlichen Form, des Blickes, der Stimme. Man gedenke der Gewalt des Wollens, der Intentionen, der Wünsche, des Gebetes. Was für unendliche und unerforschliche Sympathien, Antipathien, Idiosynkrasien überkreuzen sich nicht!
Solche
Bezüge
stellte man sich damals nach dem Modell des Magnetismus vor oder chemisch als Attraktion von Elementen, die sich aus alten Verbindungen lösen und zu neuen zusammenschließen. »Wahlverwandtschaften« nannte man seit ungefähr 1780 diese chemischen Vorgänge, und Goethe griff diesen Ausdruck zum ersten Mal 1796 auf, als er in einem Vortrag über vergleichende Anatomie erklärte, solche Vorgänge der De- und Rekomposition von Elementen sehen aus
wie eine Art von Neigung
〈...〉
, deswegen die Chemiker auch ihnen die Ehre einer Wahl bei solchen Verwandtschaften zuschreiben.
Doch es handele sich in Wirklichkeit nicht um eine Wahl, sondern um
Determinationen
, fährt er ernüchternd fort, um dann mit der bedeutungsschwangeren Bemerkung zu schließen:
ob wir ihnen
〈diesen Determinationsvorgängen〉
gleich den zarten Anteil, der ihnen an dem allgemeinen Lebenshauche der Natur gebührt, keineswegs absprechen wollen.
Wenn also die organische Natur am
Lebenshauche
teilhat, kann man doch auch einmal umgekehrt den Lebenshauch zwischen den Menschen in eine organisch-chemische Perspektive rücken. Der Ausdruck »Wahlverwandtschaft« in der Chemie bedeutet eine metaphorische Humanisierung der Natur, wohingegen der Roman »Die Wahlverwandtschaften« das Gegenteil versucht: eine Naturalisierung des Humanen. Im ersten Fall wird den Elementen wenigstens metaphorisch Freiheit zugesprochen. Im zweiten Fall erscheint menschliche Freiheit als unbewußte Notwendigkeit.
Wie frei ist die Liebe, wieviel Naturzwang steckt in ihr – das ist die Frage, von der sich der Roman herausfordern läßt. In der Verlagsanzeige erläutert Goethe den Romantitel.
Es scheint, daß den Verfasser seine fortgesetzten physikalischen Arbeiten zu diesem seltsamen Titel veranlaßten. Er mochte bemerkt haben, daß man in der Naturlehre sich sehr oft ethischer Gleichnisse bedient, um etwas von dem Kreise menschlichen Wissens weit Entferntes näher heranzubringen; und so hat er auch wohl, in einem sittlichen Falle, eine chemische Gleichnisrede zu ihrem geistigen Ursprunge zurückführen mögen.
Was bedeutet es in diesem Falle, wenn die
chemische Gleichnisrede
an ihren
geistigen Ursprung
zurückgeführt wird? Die chemischen Elemente, die sich neu verbinden, haben keine Wahl. Und doch sieht es so aus. Die Menschen, die sich neu verbinden, haben eine Wahl. Doch: Sieht es auch bei ihnen nur so aus? Das wäre dann der Ursprung der Gleichnisrede. Beidesmal, in der Chemie der Elemente wie in der Chemie der menschlichen Beziehungen, gibt es Notwendigkeit und allenfalls eine Als-ob-Freiheit. Freiheit als Gleichnis, nicht als Wirklichkeit.
Das Problem wird unter den Romanfiguren selbst erörtert. Charlotte protestiert gegen die Auflösung der Menschenwelt ins Naturreich.
Aber der Mensch ist doch um so manche Stufe über jene Elemente erhöht, und wenn er hier mit den schönen Worten Wahl und Wahlverwandtschaft etwas freigebig gewesen; so tut er wohl, wieder in sich selbst zurückzukehren und den Wert solcher Ausdrücke bei diesem Anlaß recht zu bedenken.
Recht bedacht, heißt für Charlotte: den Ausdruck der Wahl für die Menschenwelt zu reservieren und dem Naturreich zu entziehen. So aber denkt Goethe nicht. Er wolle zeigen, schreibt er in einem Brief, wie
durch das Reich der heitern Vernunft-Freiheit die Spuren trüber leidenschaftlicher Notwendigkeit sich unaufhaltsam
hindurchziehen, die nur durch eine höhere Hand, und vielleicht auch nicht in diesem Leben, völlig auszulöschen sind.
Der Roman ist eine Experimentalanordnung, wo das Kräfteverhältnis zwischen Freiheit und Notwendigkeit im erotischen Wechselspiel erkundet wird. Man nehme zwei gereifte Eheleute, in milder Liebe verbunden, zurückgezogen und abgeschirmt lebend in Schloß und Garten, aller Pflichten ledig, in einer Situation, die es ihnen erlaubt, sie aber auch nötigt, an sich selbst und aneinander Genüge zu finden. Die Erzählung setzt in dem Moment ein, da die bisher idyllisch geschlossene Welt sich öffnet. Der Mann, Eduard genannt, wünscht seinen langjährigen Freund, einen abgedankten Hauptmann, herbeizuholen. Die Frau, Charlotte, zögert und warnt vor unerwünschten und unberechenbaren
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