Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
waren, sind ihm
allzu oberflächlich
. Er sucht den eigenen Ton, er sucht sich selbst.
Abgemagert und schwach, im Bett oder in Decken eingewickelt, feilt er an den Gedichten, die er aus Leipzig mitgebracht hatte. Einige waren in der kalligraphischen Sammlung von Behrisch erschienen, andere hatte er Friederike Oeser zum Abschied geschenkt. Daraus stellte er im Jahr 1769 eine Sammlung zusammen, zu der Theodor Breitkopf, ein Freund aus Leipzig, Melodien komponierte. Das Ganze erschien unter dem Titel »Neue Lieder, in Melodien gesetzt von Bernhard Theodor Breitkopf«. Goethes erste Veröffentlichung, noch ohne Nennung des Autors.
Auf dem Krankenlager arbeitet Goethe an dem Stück »Die Mitschuldigen«. Die Idee dazu stammte noch aus der Leipziger Zeit. Die zunächst einaktige Farce arbeitete er zu einer veritablen dreiaktige Komödie um, an der er so viel Gefallen fand, daß er sie in spätere Werkausgaben aufnahm. Das Stück, urteilt er in »Dichtung und Wahrheit«, sei eine heitere Burleske auf
düsterem Familiengrunde
. Ein wohlhabender Reisender, Alcest, wird in einem Wirtshaus bestohlen. Söller, ein Nichtsnutz und Verschwender, der auf Kosten seines Schwiegervaters, des Wirtes, lebt, begeht den Diebstahl und muß dabei mit ansehen, wie seine Ehefrau, die Wirtstochter Sophie, sich zum Stelldichein mit Alcest einfindet. Auch der Wirt selbst, der aus Neugier das Gepäck des Reisenden ausforschen will, kommt angeschlichen. Und so treffen sie alle in der Kammer des Alcest zusammen, Söller, der Wirt und Sophie. Jeder traut dem anderen den Diebstahl zu. Wenn am Ende Söller als Täter entlarvt wird, müssen sich alle irgendwie mitschuldig fühlen. Nur scheinbar wird die äußere Ordnung wiederhergestellt.
Für diesmal wär’s vorbei,
erklärt der Dieb erleichtert, besser sei es, zum
Hahnrei
gemacht denn als Dieb
gehangen
zu werden. Das Stück spreche, so Goethes späterer Kommentar,
in etwas herben und derben Zügen jenes höchst christliche Wort spielend aus: Wer sich ohne Sünde fühlt, der hebe den ersten Stein auf
.
Diese moralische Gebrauchsanweisung paßte zu der Wende, die sich zu dieser Zeit beim jungen Goethe vollzog, der auf der Suche nach Orientierung einen Versuch mit der Frömmigkeit anstellte. Es war allerdings nicht das erste Mal, daß Goethe sich den
himmlischen
Dingen zuwandte. In der Autobiographie erzählt er von seiner Verzauberung durch das Alte Testament. Unter der Anleitung eines Lehrers hatte er als Knabe versucht, die ersten Bücher Moses in hebräischer Sprache zu lesen. Für ihn waren das ganz einfach wunderbare Erzählungen von den Leiden und Freuden der
Glaubenshelden
, die unerschütterlich aus der Überzeugung lebten,
daß ein Gott ihnen zur Seite ziehe, daß er sie besuche, an ihnen Anteil nehme, sie führe und rette
. Gott ist in diesen Geschichten eine vertraute, übermenschliche und doch mit seinem Zorn und seiner Eifersucht wiederum eine sehr menschliche Person, mit der die
Glaubenshelden
Umgang pflegen, und wenn man davon liest, wird man auch, wie diese, mit ihm vertraut. Dieser Gott lebt in den Erzählungen wie eine Romanfigur, und solange man die schönen Geschichten aus der Patriarchenwelt liest, glaubt man an diesen Gott der Wüstenväter wie man an Störtebecker, die Haimonskinder, Eulenspiegel oder Hans im Glück glaubt. Das sind ganz einfach schöne Geschichten. Zu ihnen hatte sich schon der Knabe geflüchtet und sich dort
unter den ausgebreiteten Hirtenstämmen zugleich in der größten Einsamkeit und in der größten Gesellschaft
gefunden.
Das ist Hingabe an eine Märchenwelt. Anders die
allgemeine, natürliche Religion
, die der Knabe von anderen Lehrern mitgeteilt bekam und die wohl auch die Religion des Vaters war. Sie besteht in der
Überzeugung, daß ein großes, hervorbringendes, ordnendes und leitendes Wesen sich gleichsam hinter der Natur verberge,
und er setzt die Bemerkung hinzu:
eine solche Überzeugung dringt sich einem Jeden auf.
Ob diese Überzeugung berechtigt ist, wird an dieser Stelle nicht erörtert. Das
hinter der Natur
ist für Goethe zumindest ungewöhnlich. Er betonte sonst immer, daß man Gott nicht hinter der Natur, sondern in ihr suchen sollte. Aber es war ihm auch klar, daß der gewöhnliche und auch der kindliche Verstand sich die Natur gerne wie ein Werkstück vorstellt, das der große Meister angefertigt hat und beherrscht. Diese
natürliche Religion
, wie er sie nennt, gehört zum Pensum, das man lernen konnte und als Knabe lernen sollte.
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