Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Die Geschichten aus der Patriarchenzeit aber waren Poesie.
Der Knabe hatte den Versuch unternommen, dieser eher trockenen
natürlichen Religion
einen persönlichen und zeremoniell-poetischen Aspekt zu geben. In »Dichtung und Wahrheit« erzählt Goethe, wie er auf des Vaters zylindrischem, rotlackierten und goldgeblümten Musikpult Früchte, Blätter und Blumen aufschichtete als Opfergabe für einen Gott, den er sich nicht anders denn als Naturgott vorstellen konnte und den er, da er ihm keine
Gestalt
geben konnte, eben in seinen
Werken
ehren wollte.
Naturprodukte sollten die Welt im Gleichnis vorstellen, über diesen sollte eine Flamme brennen und das zu seinem Schöpfer sich aufsehnende Gemüt des Menschen bedeuten.
Bei Sonnenaufgang sollten mittels eines Brennglases Räucherkerzen entzündet werden. Das gelang zunächst auch ganz gut, Wohlgerüche verbreiteten sich, doch schließlich brannten sich die Kerzen in den roten Lack, es begann zu stinken und das schöne Mobiliar des Vaters nahm Schaden beim Versuch, dem
aufsehnenden Gemüt
angemessen Ausdruck zu verleihen. So schließt er am Ende seiner Schilderung des kindlichen Opferrituals:
fast möchte man diesen Zufall als eine Andeutung und Warnung betrachten, wie gefährlich es überhaupt sei, sich Gott auf dergleichen Wegen nähern zu wollen
.
Ganz verkehrt war diese Annäherung dennoch nicht. Dem Bilderverbot war Genüge getan, er hatte den unsichtbaren Gott in seinen Werken geehrt. Dieser Gott war für ihn einer, der mit der Natur
in unmittelbarer Verbindung
steht, ein Gott des Wachsens und Gedeihens. Ein Gott des Sonnenaufgangs. Die Dankbarkeit für das Licht, der Sonnenkultus, den der Knabe spielerisch-ernsthaft in Szene setzt, bleibt für Goethe lebenslang die
religioseste aller Funktionen
. Als alter Mann kennzeichnet er in den Noten und Abhandlungen zu »Besserem Verständnis« des West-östlichen Divans den Sonnenkultus am Beispiel der Religion der alten Perser:
Sie wendeten sich, den Schöpfer anbetend, gegen die aufgehende Sonne, als der auffallend herrlichsten Erscheinung.
〈...〉
Die Glorie dieses herzerhebenden Dienstes konnte sich jeder, auch der Geringste täglich vergegenwärtigen.
Die das Gebet als tägliches Geschenk annehmen können, erscheinen ihm als
gottbegünstigte Menschen
, die sich die erhabenen Gefühle noch nicht durch
fromme Langeweile
haben abtöten lassen.
Auch gegen solche
fromme Langeweile
war des Knaben Gottesverehrung gerichtet, gegen den protestantischen Religionsunterricht, der nur
eine Art von trockener Moral
vermittelte, eine Lehre, die
weder der Seele noch dem Herzen zusagen
konnte. Gerade deshalb hatte der Knabe seine persönliche Gottesverehrung erfunden, indem er sich statt an den Gott der Moral an den naturschöpferischen Gott wandte, ehrfürchtig gegen ihn und gegen sich selbst.
Die nächste bedeutsame Berührung mit dem Religiösen erfolgte im Jahr vor der Übersiedlung nach Leipzig, als Goethe sich verstrickt sah in jene dubiose Affäre aus Ämterschacher und Unterschlagungen und als er, in Folge davon, von ›Gretchen‹ getrennt wurde. Der Jüngling fühlt sich von den Mitbürgern mißtrauisch beäugt.
Ich hatte jene bewußtlose Glückseligkeit verloren, unbekannt und unbescholten umherzugehen
. Die beobachtenden Blicke der Gesellschaft verfolgen ihn. Davor flieht er in einen geschützten Bereich, in die
schönen belaubten Haine.
Später erst wird ihm bewußt, daß er sich hiermit einen heiligen Ort erwählt hat, der auf natürliche Weise so abgeschirmt ist,
daß ein armes verwundetes Herz sich darin verbergen kann.
Dieser heilige Ort soll ihn vor den Verstrickungen in eine übelwollende Gesellschaft schützen. Ihr Bannstrahl erreicht ihn hier nicht, glaubt er. Ein Heiligtum, ein religiöser Bezug also, der ausdrücklich gegen das Gesellschaftliche gerichtet ist und Entlastung verspricht. Einem Freund gegenüber, der ihn wieder unter die Menschen ziehen will, rechtfertigt er sich: warum solle man nicht einen Zaun um diesen Ort herum bauen dürfen, um sich
zu heiligen und von der Welt abzusondern! Gewiß, es ist keine schönere Gottesverehrung als die, zu der man kein Bild bedarf, die bloß aus dem Wechselgespräch mit der Natur in unserem Busen entspringt!
Doch solches Bestreben, sich einen heiligen Ort aus dem Gewöhnlichen herauszuschneiden, um die spirituelle Vertikale gegen die gesellschaftliche Horizontale zu bewahren, ist defensiv. Die Glückseligkeit, die man hier für Augenblicke empfindet, ist
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