Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
wirklich eingegrenzt, denn der Blick bleibt auf die Grenze gerichtet, die räumliche und die zeitliche. Es ist wie beim Gebet, von dem es in den Noten und Abhandlungen zu »Besserem Verständnis« des West-östlichen Divans heißt, daß es zumeist nicht das ganze Leben durchdringt. Gewöhnlich folge auf ein
flammendes, beseligendes Gefühl des Augenblicks
die Ernüchterung, wobei der
sich selbst zurückgegebene, unbefriedigte
〈...〉
Mensch in die unendlichste Langeweile zurückfällt.
Die Langeweile ist das Profane.
Wie aber läßt sich ein starkes Gefühl verstetigen, wie kann die Magie des heiligen Ortes den profanen Raum durchherrschen? So hatte sich der Knabe die Frage wahrscheinlich nicht gestellt. Aber der Autor der Autobiographie stellt sie sich – und gibt eine doppelte Antwort.
Es ist die Kunst, die dem Profanen etwas dauerhaft Heiliges abgewinnt, und es ist die Kirche, die mit ihrer liturgischen Ordnung das Heilige in den Alltag einführt.
Was die Kunst betrifft, so ist es der dem Heiligen analoge Aspekt der Schönheit, unter dem ein Augenblick oder ein Ort dauerhaft im Bild, im Wort gestaltet, gefeiert und festgehalten werden kann. Das Heilige verschwindet für unsere Wahrnehmung, heißt es in »Dichtung und Wahrheit«,
wenn es nicht glücklich genug ist, sich zu dem Schönen zu flüchten und sich innig mit ihm zu vereinigen, wodurch denn beide gleich unsterblich und unverwüstlich sind.
Im Anschluß an diese Passage schildert die Autobiographie, wie der Knabe, nachdem er Zuflucht im heiligen Hain gesucht hatte, mit dem Malen beginnt, in Bildern und Worten. Gerade weil das Heilige als so flüchtig erfahren wird, fühlt der Knabe den
Trieb
, etwas
Ähnliches
in Wort und Bild festzuhalten. So bildet sich seine ästhetische Religion der Anschaulichkeit.
Das Auge war vor allen anderen das Organ, womit ich die Welt faßte.
In Leipzig ging der Student sogar auf regelrechte
Bilderjagd
. Da aber bei den einsamen Spaziergängen
weder von schönen, noch erhabenen Gegenständen dem Beschauer viel entgegentrat
und ihn auch die Mücken ordentlich plagten, so richtete sich sein Bemühen auf das
Kleinleben der Natur
und er gewöhnte sich, darin
Bedeutung zu sehen, die sich bald gegen die symbolische, bald gegen die allegorische Seite hinneigte, je nachdem Anschauung, Gefühl oder Reflexion das Übergewicht behielt
. Der bedeutungssuchende Blick in die Natur als Fortführung der Religion mit ästhetischen Mitteln, als künstlerische Kultivierung des Heiligen, wirkt bei Goethe lebenslang nach. Die Epiphanie der natürlichen Welt ereignet sich in ihrer künstlerischen Darstellung, was auch eine Art von Offenbarung ist.
Die andere Form der Verstetigung des Heiligen ist, neben der ästhetischen, die liturgisch-sakramentale, wie sie in der Kirche, besonders der katholischen, gepflegt wird. Die verständnisvollen, sogar rühmenden Passagen darüber in »Dichtung und Wahrheit« wirkten überraschend, denn man kannte Goethe bis zur Veröffentlichung des zweiten Bandes der Autobiographie im Jahre 1812 nur als erbitterten Kritiker der katholischen Kirche, deren Dogmen – von der Erbsündenlehre bis zum Teufelsglauben – er als schlimmen Aberglauben gegeißelt hatte. Das Schicksal des katholischen Calderón etwa bezeichnete er als den
allertraurigsten Fall
eines genialen Autors, der
das Absurde vergöttern zu müssen
gezwungen war, und er schätzt Shakespeare glücklich, weil ihm der
bigotte Wahn
des Katholischen erspart geblieben sei.
Die Passagen über das reiche liturgisch-sakramentale Leben der katholischen Kirche im Kontrast zur protestantischen Ärmlichkeit finden sich im Zusammenhang der Schilderung der Leipziger Jahre. Damals wird Goethe kaum so grundlegend wie in der Autobiographie über das Wesen der katholischen Kirche nachgedacht haben, doch vom kargen Moralismus der protestantischen Kirche fühlte er sich schon früh abgestoßen. Das war keine Religion nach seinem Geschmack, es fehlte ihr die anschauliche und festliche
Fülle
. Der orthodoxe Protestantismus war für ihn eigentlich gar keine Religion, sondern nur Morallehre.
Im Rückblick bemerkt Goethe, daß sein kindlicher Opferkult, die Naturandacht bei der Einhegung eines heiligen Hains, die naturfromme Bilderjagd, der Kult mit der Schönheit – letztlich religiöse Gesten sind, welche den Mangel eines sakral geordneten Lebens kompensieren sollen. Wie ein solches Leben aussehen könnte, beschreibt er im siebten Buch von »Dichtung und Wahrheit«. Der
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