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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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Frommen zu einem Menschen, der
noch zu sehr durch die Anhänglichkeit an die Welt zerflattert ist
.
    Er aber möchte von dieser
Anhänglichkeit an die Welt
nicht lassen. Er weiß, daß sie ihn zu einem Dichter nach seinem Geschmack macht. Er liebt das Licht, die Pietisten aber bevorzugen Dämmerstunden. Bei einer Versammlung im väterlichen Haus unterbricht er die Andacht:
was soll die Finsternis hier! Sagte ich und zündete einen Lüstre an der über uns hing, da wurd’s hübsch helle.
    Goethes Annäherung an den Pietismus begünstigt mißtrauische Selbstbeobachtung. Es ist pietistische Art, den subtilen Regungen nachzuspüren im intimen Verhältnis der Seele zu Gott. Es hat sich dafür eine eigene Terminologie gebildet, die der junge Goethe übernimmt und in der er sich so sicher bewegt, daß er sie bald auch als geschmeidige Ausdrucksmöglichkeit für Seelisches ohne fromme Intention nutzt. Etwa wenn er von
Offenherzigkeit
spricht und damit nicht nur, wie im pietistischen Sinne, die Öffnung der Seele für Gott meint, sondern die herzliche Offenheit zwischen den Menschen. Auch beschreibt er in den Briefen an Langer seine erotischen
Herzensangelegenheiten
– die Nachwirkungen der Trennung von Kätchen – im Sprachspiel der pietistischen Herz-Jesu-Liebe. Da ist ihm so
kalt ruhig
, als hätte er Kätchen ganz vergessen; die Seele ist
still, ohne Verlangen
. So bezeichnen die Pietisten in der Regel die Verstocktheit der Seele gegen Jesus, Goethe aber beschreibt mit diesen Worten das Erlöschen seiner Liebe zu Kätchen.
Die
Geschichte meines Herzens
, nennt Goethe dem Freund gegenüber seine brieflichen Geständnisse, manchmal ist bei Liebesdingen Kätchen gemeint, manchmal auch Jesus. Kätchen ist verloren, vielleicht ist Jesus gewonnen. Anfang 1769 kommt eine Erfolgsmeldung:
Sehen Sie lieber Langer
〈...〉
; Mich hat der Heiland endlich erhascht, ich lief ihm zu lang und zu geschwind, da kriegt er mich bei den Haaren
. Doch sicher ist er nicht. Im selben Absatz der Stoßseufzer:
Doch Sorgen! Sorgen! Immer Schwäche im Glauben.
    Ein eigentliches Bekehrungserlebnis im pietistischen Sinne hat wohl nicht stattgefunden. Aber wie schön wäre es, wenn er ein solches Erlebnis hätte. Er kann es darstellen, ohne es zu haben. Er fühlt sich ein, und er kann seine Sprache auf den Herz-Jesu-Ton stimmen. Von Jesus selbst braucht dann gar nicht die Rede zu sein, sondern nur vom eigenen Herzen. Ihm gilt alle Aufmerksamkeit oder, wie es wenig später im »Werther« heißt:
Auch halt ich mein Herzgen wie ein krankes Kind, all sein Wille wird ihm gestattet
.
    Langer war beim Versuch mit der Frömmigkeit der Seelenführer aus der Ferne. Susanna von Klettenberg, eine Freundin und entfernte Verwandte der Mutter, war die Mentorin in der Nähe. Sie war Mitte Vierzig und lebte im vornehmen Familienanwesen in der Stadt, unverheiratet, von Bedienten umsorgt und von den Herrnhutern umworben. Sie ließ es sich gefallen und zog es doch vor, ein frommes Leben nach eigenem Gusto zu führen. Einmal war sie verlobt gewesen mit dem Stadtschöffen Ohlenschlager, doch man war wieder auseinandergekommen, weil sie allzu geistlich und der Bräutigam allzu weltlich gesinnt war. Sie nahm sich Jesus zum innerlichen Bräutigam, umgab ihn mit einem Liebeskult und unterhielt mit Männern, die ihr sonst nahestanden, nur geschwisterliche oder, wie beim jungen Goethe, mütterliche Beziehungen.
Ihre liebste, ja vielleicht einzige Unterhaltung
, heißt es in »Dichtung und Wahrheit«,
waren die sittlichen Erfahrungen, die der Mensch, der sich beobachtet, an sich selbst machen kann; woran sich denn die religiosen Gesinnungen anschlossen, die auf eine sehr anmutige, ja geniale Weise bei ihr als natürlich und übernatürlich in Betracht kamen.
    Im 6. Buch von »Wilhelm Meisters Lehrjahren« zeichnete Goethe unter dem Titel »Bekenntnisse einer schönen Seele« ein Porträt dieser Frau, wobei er ihre Aufzeichnungen und Briefe verwendete und dem Ganzen die Form eines autobiographischen Berichtes gab. Man spürt an diesem Text, welche Art von Frömmigkeit Goethe damals anziehend fand.
    Die Klettenberg hatte ihren Heiland nicht aus Gewissensangst gefunden und angenommen. Theologische Subtilitäten spielten ebenfalls keine Rolle. Sie war an Naturwissenschaft und theoretischen Spekulationen durchaus interessiert, hielt es aber nicht für nötig, irgendwelche Begründungen für ihren Gott zu suchen. Gott war ihr einfach etwas Evidentes, eine glückhafte Empfindung,

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