Goethe
von Felonie reden, wenn ich ginge?« Behauptet im Nu, machte er den Schritt langsamer, breiter. »Niemand!« Er hatte sich elf Jahre lang bis über den Hals mit Geschäften, Geschäftchen, Ämtern, Verpflichtungen, Handlangerdiensten zugedeckt, mit Gelegenheitsversen, Maskeraden, Liebhaberdramchen, Nachtstuhlreparaturen und Aktenabschriften abgerackert und seine innere Sendung Sendung sein lassen. Gewiß! – energisch nickte er – dieser Altruismus hatte auch Gutes gewirkt. Ein Dichter, der nur dichtet? In der Phantasie versinken? Einseitigkeit züchten? Entsetzlich! Er hatte die Menschen kennen gelernt und ihr ewiges, erstes Bedürfnis: den Vorteil. Illusionen, soweit er solche überhaupt besessen – eiskalt lächelte er – »dahin, auch die letzte!« Aber –: hebt die Begnadung des Dichters nicht erst hinter den Illusionen an? Wird der Dichter nicht erst dann zum Offenbarer für Seelen, wenn er selber nichts anderes mehr für sich will als die Wahrheit? »Und bin ich nicht geradezu vollgepfropft mit Wahrheit?«
Wollüstig auf einmal reckte sich der Leib. Die Stumpfheit, die Schwäche, der Ekel sanken im Auftakt, im Abtakt des erleichterten Schrittes. Die größte Lebenskunst besteht darin: augenblickliche Stimmungen nicht zu überschätzen. Für den Gereiften ist das Leben nie Sekunde. Jede Sekunde nur Schwelle zwischen Vergangenheit und Zukunft. Wenn er laut aussprach: »In Weimar ist es nicht auszuhalten!« – mußte er nicht selber lachen? Für den Pflichtgetreuen, Gewissenhaften, Reinen ist es nicht nur leicht auszuhalten, sondern: allerbeste Erziehung! »Nein!« Fest stieß er den Degen in den beregneten Boden. »Ich gehe nicht!«
Schnell drauf, behutsam, hielt er inne: waren das, die so geschickt wiederfingen und wiederhielten, die Netze der Bedenken, der Rücksichten, der Gewohnheit, des Pflichtgefühls und des gezwungenen Vertrauens auf seine Kraft, auszuharren? »Nein!« Klarsten Auges, gerüstet zu empfangen, sah er in den Weg hinaus, der sich vor ihm aufrollte. Und sofort tauchten sie auf aus der geheimnisvoll geweihten Fläche der Erde: die Erinnerungen. Alle! Das süße Gefühl, zu Hause zu sein, sich zwischen Wolken und Schollentiefen zu bewegen, die in jedem Hauch und in jedem Korn die Substanz seines Wesens bargen, wie seine eigenen Strebungen, Erfindungen und Sehnsüchte zu seinem schonungslos lauschenden Herzen sprachen, liebkoste ihn. Eingeleitet von unschuldigen Morgenröten, getragen von lichten Mittagen, und beschlossen von festlichen Abendhellen, erschien die Fülle der vergangenen Jahre verklärt seinem Blicke. Rührung über diesen Reichtum an Leben, Rührung über sich selbst als den Dichter und Herrn dieses Lebens ergriff ihn. Wo war nur ein Stein am Raine, der nicht Fortschreiten bewies? Sprachen nicht sogar die nordischen Düfte des Regens, der rauhe Fittich des Sturms von Errungenschaften der Seele? Zeigten nicht Wurzel und Strunk im Dunkel verborgener Bäume, die Blumen im Wieschen, die er nicht sah, aber wußte, die gliedrige Feder des Akazienzweigs, die er ahnte, und zwischen all diesen leibhaftigen Dingen die Zwischenräume, die sein zaubernder Geist mit den Gestalten der Phantasie bevölkerte, – zeigten sie nicht alle die ganze Welt und bekundeten damit unwiderleglich, daß er nicht eingesperrt war und gebannt? Aber, mit lauerndem Blick kaum die Wand des Gartenhauses erspäht, die nun fahl aus diesen Kulissen aufwuchs, – und wie Wachs in der Sonne schmolz die Kraft dieser Betrachtung dahin. Mit rücksichtslos festen Umrissen traten die Dinge aus der Finsternis hervor. Die Hauswand war ihr gemeinsamer Sammelpunkt, der Pfad, der an ihren Stufen sein Ende fand, ihr gemeinsames Rückgrat. Fremd schauten sie ihn an. Ja noch mehr! Die Eschen, die Pappeln, die Weiden, die Birken, die Linden, mit ihren weitausgebreiteten oder turmspitzen oder bodenverlangenden oder fahnenschwenkenden oder dachzahmen Kronen wiesen sie spöttisch, ja höhnend auf den immer tagnaher erschimmernden Weg und sagten ohne Erbarmen: »Das ist dein Gefängnis! Dein einziger Weg! Den allein gehst du, immer wieder hin und zurück!« Und als aus ihrem Ineinanderverstricktsein, das wie Feindgenossenschaft über seinem Haupte webte und rauschte, der Giebel des Dachs sich für eine Sekunde befreite und der Kies vor der schmalen Pforte den Fuß aufnahm, schrie ein Kauz vom Schindelgiebel neben dem zahnförmigen Schornstein herab in die gepeitschten Regenschauer seinen häßlichsten Schrei, nahmen die Wellen
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