Goethe
der Ilm ihn gierig auf und gaben ihn vertausendfacht zurück, und er hieß: »Von hier entkommst du nie mehr!« Eine Rose auf tanzendem Schaft im Beet an der Pforte streute mit fahlem Purpur den Duft ihrer Seele ihm zu, der sie vor kaum vier Jahren allmorgens, allabends pflegsam begrüßt hatte, und weckte in seinem Blut noch einmal Hoffnung auf helfendes Licht. Aber als er die Hand nach ihr ausstreckte, um sie zu streicheln, kam plötzlich aus der Wirrnis der Büsche, wie eine Räuberin, Lotte hervor und trug diese Rose am Busen; und als sie verschwunden war, trat aus der Pforte von neuem, habsüchtig, Lotte hervor und trug diese Rose am Busen; und als sie zum zweitenmal verschwunden war, kam hinterm Hause zum drittenmal, unerbittlich verwehrend, Lotte hervor und trug diese Rose am Busen; und als er die Erscheinung mit wildaufstampfendem Fuß verscheucht hatte, beugte sich, über der Pforte, aus dem geheim schwarzen Fensterviereck, wieder die Blutsaugerin Lotte herab und trug diese Rose am Busen. . . . . .
Mit eiserner Hand griff er, von der Stufe zurückgetreten in den Sand, nach dem jüngsten Lindenbäumchen im Rasen. »Dich habe ich vor neuneinhalb Jahren da hereingepflanzt unter meine Stube als meinen treuesten Bruder im Werden und Wachsen. Und jetzt bist auch du, wie alles andere rundum, nur noch Pfeiler im Zirkelweg, den ich Verdammter, gefesselt auf ewig, da trotte!« Als ob ihn ein Gespenst angehaucht hätte, fuhr er auf: Gesang erscholl. Von woher? Ohne sich noch besinnen zu können, wie die Harfe, die nach dem Finger schreit, der sie streiche, lispelte er, zerbrochen, vor sich hin:
» . . . . . Was dem Menschen unbewußt
Oder wohl veracht't
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht!«
Schwarz trat er auf die Stufe zurück. Duldsam gab das Tor der befehlenden Faust nach. Unheimlich tönte der Schritt auf den Fliesen. »Götz!« rief er ungeduldig ins Stockwerk hinauf, wie in einer Kirche hallte die Stimme. »Götz!«
Katzenpfötig kam Götz das Treppchen herabgeglitten.
»Schläft er?«
»Er wollte aufbleiben, bis Sie kämen. Als es elf war und Sie noch fortblieben, hab ich ihn ins Bett gesteckt.«
»Hat er gegessen?«
»Pfannkuchen mit Spinat und ein' Henkel Wurst.«
»Zieh mir die Schuhe aus!«
»Der wacht nicht auf, Exzellenz, und wenn Sie hineinreiten!«
Dennoch: auf Strümpfen stieg er empor. Auf den Zehenspitzen, die Türklinke leise niederdrückend, trat er in der Stube ein. Wie Hammerwerk schlug ihm das Herz. Schritt für Schritt, vorgebeugt, schlich er im flackrigen Schein des Nachtlichts an das eiserne Bett. Der Bub schlief. Das weißrote Jungengesicht, fast verborgen im Walde der Locken, ruhte mit halbgeöffneten Lippen auf dem rechten Arm. Der linke lag, nur bis zum Ellbogen im Ärmel des Nachthemdes, auf der weißen wollenen Decke. Die eine Hand, ausgestreckt wie nach einer Frucht, die zu pflücken war, schaute zwischen Bett und Kissen hervor; die andere hielt mit eingeklemmtem Finger ein Buch.
Plötzlich – er begann am ganzen Leibe zu zittern – schossen ihm, wie er da staunte und schaute, die Tränen über die Wangen herab. Ein flattriger Ruck ging durch den schlummernden Leib. Die Augen, für eine blitzschnelle Sekunde, öffneten sich und erkannten. Selig lächelte der blühende Mund. Leise fing die Kinderhand die suchende, heiße des Führers: »Bist du – schon da?« Überwältigt, mit sehnsüchtig gebreiteten Armen, nichts anderes mehr als Liebe, Hingebung, Hinfließen – Natur! – sank er vor dem Bett in die Knie; schlang die Arme um den Lockenkopf; legte das brennende Antlitz auf die stillatmende Brust, die schon wieder im Traum war. »Nein! Nein! Ich geh' nicht!« schwor es mit tausend siegreichen Stimmen in all seinen Adern, während Wonne und Weh ihn gleich grausam rüttelten vor dem Fleisch und Blut der Geliebten, die nicht ahnte. »Nein! Ich bleibe bei dir. Wer sollte dich denn sonst lieben!« Gewaltsam hob er das Haupt; die Arme. »Wenn du mich auch nicht mehr hättest und mutterseelenallein da ver . . steintest!« In der nächsten Sekunde traf den geschlagenen Blick der finstere, viereckige Raum. Das Fenster. Das Fensterkreuz, das wie unerbittlicher Grenzpfahl gegen die Wüste der Nacht starrte. Und sofort fiel der pressende Berg auf die Brust zurück. Wie entrissen verebbte der Atem. In steifes Eis zurück versanken die Glieder. Herrisch befehlend stach der geheftete Blick in die Nacht vor dem Gitter. Und sie gehorchte. In überdeutlichen
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