Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut
Gefängnishof, von Grasmann, dem Mann im grünen
Hemd, dem Brief im Stationszimmer und von dem, was in der Dusche passiert war.
Es fiel mir nicht leicht, von dieser
Duschszene zu sprechen, von meiner Panik in diesem Moment und von der unaussprechlichen
Angst. Und es gab nur wenige Personen, denen ich mich in dieser Weise anvertraut
hätte. Als ich darüber nachdachte, fiel mir auf, dass dies alles Frauen waren.
Hanna war nicht zu sehr beunruhigt,
sie wirkte gelassener als ich. Offensichtlich nahm sie an, nun, da ich aus dem Gefängnis
entlassen war, sei die Gefahr vorüber. Ich versuchte nicht, sie vom Gegenteil zu
überzeugen.
Es war inzwischen ungefähr 20 Uhr
geworden. Sie stand auf. »Ich glaube, es wird Zeit für mich zu gehen«, sagte Hanna.
»Warum?«
»Du brauchst Ruhe.«
»Ich brauche dich !«, antwortete
ich, erhob mich ebenfalls und zog sie an mich.
So standen wir eine ganze Weile,
Kopf an Kopf, Herz an Herz.
Ist es Ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Daß man sie als eines kennt?
So hatte Goethe es einst formuliert, und so galt es auch heute noch.
Solche Frage zu erwiedern,
Fand ich wohl den rechten Sinn,
Fühlst du nicht an meinen Liedern,
Daß ich Eins und doppelt bin?
»Hanna, ich weiß, es war damals ein ungünstiger Augenblick, mitten
im Umzugsstress …«
Sie öffnete die Augen weit. Ich
zog eine gelbe Rose aus dem Blumenstrauß, der auf dem Tisch stand.
»Hanna, ich möchte bei dir bleiben
… immer!«
Ihr Blick wurde unruhig.
»Hanna, möchtest du meine Frau werden?«
Schlagartig wich jede Farbe aus
ihrem Gesicht. Sie schluckte schwer.
Mein Herz raste. »Was ist?«
»Hendrik …« Tränen liefen ihre Wangen
hinab. »Ich kann dazu jetzt nichts sagen, nicht jetzt und nicht so …«
»Was?« Ich schrie so laut, dass
ich mir fast selbst die Luft nahm.
»Mutter geht es nicht gut, sie …
braucht mich jetzt.«
Mit einem Ruck stieß ich Hanna von
mir weg. Mein linker Arm hing wie ein Fremdkörper an mir. Ich bemerkte keinen Schmerz.
»Bei meinem ersten Heiratsantrag war es die Sorge um deinen Vater, jetzt ist er
tot, nun nimmst du deine Mutter als nächste Ausrede! Willst du erst warten, bis
sie auch tot ist?«
»Hendrik!« Noch nie hatte ich sie
so hysterisch schreien hören.
Mit einem Ruck öffnete sich die
Tür und die kräftige Nachtschwester stand im Zimmer. Sie schaute streng auf Hanna
und mich.
»Die Dame wollte sich sowieso gerade
verabschieden!«, sagte ich, den Blick abgewandt.
»Aber Hendrik …«
»Du hattest vorhin recht, es ist
Zeit für dich zu gehen!« Damit kroch ich ins Bett und drehte mich zur Wand.
Augenblicke später fiel die Tür
ins Schloss. Ich war allein. Ich konnte nicht mehr denken und nichts mehr fühlen.
Ich wusste nur eines: So gedemütigt hatte mich bisher noch niemand.
5. Kapitel
Freitag, 27. August 2004. Der Tag, an dem Hanna fliehen musste.
Hanna Büchler konnte nicht einschlafen. Die Ereignisse des Abends im
Krankenhaus gingen ihr wieder und wieder durch den Kopf. Sie fand keine Antwort
auf die Frage, wie sie mit der Krise zwischen ihr und Hendrik umgehen sollte. Zum
ersten Mal spürte sie ein Gefühl, das sie Hendrik gegenüber noch nie verspürt hatte:
eine tiefe Enttäuschung. Eine Enttäuschung, von der sie nicht sicher war, ob sie
sie irgendwann überwinden würde. Spät in der Nacht fiel sie schließlich in einen
unruhigen Schlaf.
Um in der Nähe ihrer Mutter zu sein,
hatte sie vorübergehend das Bett des Vaters übernommen. Schon als kleines Mädchen
hatte sie das oft getan, wenn ihr Vater verreist war. Doch nun würde er nie wieder
zurückkommen. Sie hasste diesen Gedanken, wusste aber zugleich, dass sie sich daran
gewöhnen musste.
Als Hanna am Freitag früh gegen
5.30 Uhr erwachte, hörte sie sofort, dass es ihrer Mutter nicht gut ging. Der Atem
rasselte. Sie schaltete das Licht ein. »Mutter?«
Keine Reaktion.
Vorsichtig rüttelte sie an ihrer
Schulter.
»Mutter!«
Es dauerte eine Weile, bis sie merkte,
dass diese nicht ansprechbar war. Hanna rannte in den Flur. Sollte sie Karola wecken?
Nein, es dauerte zu lange, ins Dachgeschoss zu gehen, zuerst musste sie Hilfe rufen.
Die Telefonnummer des neuen Hausarztes hing an der Wand. Dr. Gründlich. Mit Handynummer
– für Notfälle.
Er meldete sich sofort. »Beine hochlegen,
ein kaltes Handtuch auf die Stirn, mit ihr reden«, befahl er, »bin in fünf Minuten
bei Ihnen!«
Hanna rannte zurück ins
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