Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut
nichts.
Dann stand sie auf und ging auf Hanna zu. »Es war gut, dass du es mir gesagt hast«,
sagte Karola, während sie ihre Schwester umarmte.
Hanna konnte sich nicht daran erinnern,
ihre Halbschwester überhaupt jemals umarmt zu haben. Und nun zweimal kurz hintereinander.
Alles hat seine Zeit, dachte sie. Und sie wusste, dass es Zeit war für die ganze
Wahrheit.
»Karola …«
»Ja?«
»Sie hat nicht mehr lange zu leben.«
»Was?«
Hanna nickte.
Karola hatte jegliche Farbe aus
dem Gesicht verloren. Sie wirkte noch schmaler als sonst. »Wie lange noch?«
»Schwer zu sagen«, antwortete Hanna,
»vielleicht ein paar Monate, vielleicht ein paar Wochen …?«
»Oh Gott!«
Soweit Hanna sich erinnern konnte,
hatte Karola noch nie das Wort ›Gott‹ in den Mund genommen. Und sie hatte noch nie
in ihrer Anwesenheit geweint.
»Früher hat sie unheimlich viel
geraucht«, schluchzte Karola.
»Sie hat geraucht?«
»Ja, damals in Dresden, auch noch
nach meiner Geburt. Später, als du kamst, hat sie aufgehört.« Sie wischte sich die
Tränen aus dem Gesicht.
»Also deshalb …«, stammelte Hanna.
Karola nickte.
Sie tranken Kaffee. Hunger hatten
sie beide nicht. Karola erzählte von der Zeit in Dresden, und Hanna hörte zu. Danach
sprach Hanna – von ihren Eltern, von ihrer Kindheit und ihrer Schulzeit, von der
Alzheimer-Phase ihres Vaters. Das Telefon klingelte, Hanna ging in den Flur und
führte ein kurzes Gespräch mit einer Nachbarin, die sich Sorgen um Frau Büchler
machte.
Als sie wieder zurückkam, fragte
Karola unvermittelt: »Ist was mit Hendrik?«
»Wie kommst du darauf?«
»Habt ihr euch gestritten?«
Hanna wandte den Blick ab und nickte
kurz. »Er will mich heiraten.«
»Ja, und?«
»Aber jetzt doch nicht, wo Mutter
so krank ist.«
»Weiß er das?«
»Ja, schon …«, antwortete Hanna
zögernd.
Karola schüttelte den Kopf. »Pass
auf. Hendrik …«
»Was meinst du?«
»Er passt zu dir!«
Aus dem Schlafzimmer drang lautes
Husten. Sie liefen beide hinüber.
Die Mutter war nach dem Mittagessen wieder eingeschlafen. Karola hatte
sich bereit erklärt, zur Apotheke und in den Supermarkt zu gehen. Hanna war sehr
froh darüber, sie brauchte etwas Zeit für sich allein. Sie nahm zur Kenntnis, dass
sich ihr Verhältnis zu Hendrik und das zu ihrer Halbschwester genau entgegengesetzt
entwickelten. Das eine wurde rasant schlechter, das andere ebenso schnell besser.
Sie konnte innerlich kaum Schritt halten.
Nachdem sie eine Weile ziellos in
ihrem Zimmer herumgegangen war, schaltete Hanna den Computer ein. Sie konnte das
Kassiber-Gedicht nicht mehr komplett auswendig, aber die wichtigsten Ausdrücke hatte
sie sich eingeprägt: Frauenstein, Jändertanz und das Kürzel BB618c. Als Erstes nahm
sie sich das Wort ›Frauenstein‹ vor. Irgendwann hatte sie einmal gehört, dass bestimmte
Edelsteine als Frauensteine bezeichnet wurden. Also gab sie die beiden Suchbegriffe
›Edelstein‹ und ›Frauenstein‹ ein. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Jade,
Rosenquarz, Karneol, Granat und Mondstein wurden als Frauensteine bezeichnet. Ihre
Spannung stieg. Als sie jedoch las, dass diese bei Menstruationsbeschwerden helfen
sollten, legte sich ihre Stirn in Falten. Wenig später fand sie sich in einer esoterischen
Ecke wieder, die ihr überhaupt nicht behagte. Ein Granat sollte sich angeblich dunkel
färben, wenn der Ehepartner untreu wurde. Hanna beschloss, dies als Sackgasse zu
betrachten, und gab ›Personensuche‹ und das Kürzel ›BB618c‹ ein: 235 Treffer. Sie
klickte die ersten zehn an, fand allerdings nirgendwo einen brauchbaren Hinweis.
Sie fuhr den Computer herunter und beschloss, später noch mal über die Frauensteine
nachzudenken, denn nur weil sie die konstruierten Zusammenhänge unsinnig fand, mussten
ja nicht alle Menschen so denken.
Den Rest des Tages verbrachten die beiden Schwestern abwechselnd bei
der Mutter, die sich sichtlich erholt hatte. Für alle drei war es ein anstrengender
Tag gewesen, sodass sie gegen 22 Uhr im Bett lagen. Hanna hatte ihr Handy neben
sich liegen, die Telefonnummer von Dr. Gründlich eingespeichert. Sie war gerade
auf dem Weg vom Wachsein zum Schlaf, als ihr Mobiltelefon einen kurzen Signalton
abgab. Sofort war sie hellwach. Auf dem Display sah sie, dass eine SMS eingegangen
war. Hanna drückte zwei Tasten und las die Nachricht: ›Muss dich dringend sprechen,
bin draußen am Kirschbaum. Gruß Siggi‹.
Mit allem hätte sie gerechnet, nur
nicht damit.
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