Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut
Ohne zu zögern, zog sie die Hausschuhe an und warf sich den Bademantel
ihres Vaters über. Es konnte nur mit Hendrik zu tun haben. Leise öffnete sie die
Schlafzimmertür und schloss sie sorgfältig wieder hinter sich. Den Schlüssel für
die Terrassentür hatte sie schnell gefunden. Draußen war es lau und angenehm, die
Sterne leuchteten, sie atmete tief durch. Neben dem Kirschbaum sah sie einen Schatten.
Ringsherum war es still.
»Siggi?«
»Ja!«
»Was machst du hier mitten in der
Nacht?«
»Entschuldige, Hanna …« Er umarmte
sie kurz. »Es ist sehr wichtig.«
»Also gut, was ist los?«
»Du musst sofort verschwinden!«
»Was?«
»Psst, leise, es darf uns niemand
hören. Du wirst auch verdächtigt, am Tod von Fedor Balow beteiligt zu sein, nicht
nur Hendrik. Ich wollte dich warnen, morgen früh wirst du festgenommen.«
»Ich?«
»Ja, du!«
»Warum denn das? Mit welcher Begründung?«
»An dem zweiten Glas in der Spülmaschine
von Fedor Balow waren auch Fingerabdrücke, aber nicht die von Hendrik, sondern deine!«
»Meine?«
»Ja, Hanna, bitte versteh doch endlich,
du bist in Gefahr, du musst verschwinden!«
»Woher wissen die denn, dass es meine Fingerabdrücke sind?«
»Keine Ahnung, ich bin doch beurlaubt,
habe seit ein paar Tagen keinen Einblick mehr in die Ermittlungsakten, ein Kollege
von der Kriminaltechnik hat mich angerufen.«
Hanna fühlte sich wie paralysiert.
»Was heißt verschwinden, wo soll ich denn hin?«
»Weiß ich ehrlich gesagt auch nicht.
Bei mir ist es zu gefährlich.«
»Hast du Verwandte?«, fragte Hanna.
»In Darmstadt …«
»Mist …«
»Und du? Freundin, Arbeitskollegin
oder so etwas?«
»Weiß nicht.«
»Hanna, bitte überleg noch mal,
sonst sitzt du morgen in der Zelle, in der Hendrik bis vor Kurzem saß, und er kann dich besuchen!«
Plötzlich fiel ihr ein, dass Hendrik
erzählt hatte, die Schläger im Gefängnishof hätten ihren Namen erwähnt. Die wussten
also, wer sie war, dass sie mit Hendrik in enger Verbindung stand. Die wollten auch
ihr Leben zerstören. Oder zumindest damit indirekt Hendrik treffen. Sie musste sich
wehren. Dieser Gedanke gab ihr Auftrieb.
»Ich hab ’ne Idee.«
»Okay, wo?«
»Besser du weißt es nicht, falls
notwendig, frag meine Schwester.«
»Deine Schwester?«
»Ja, Karola aus Dresden, sie ist
noch hier, Mutter ist krank.«
»Okay, verstehe, ich muss los, viel
Glück!«
»Alles klar, und, Siggi …«
»Ja?«
»Danke für deine Hilfe. Wir sind
beide unschuldig.«
»Ich weiß.« Damit verschwand er
als grauer Schatten im Gebüsch Richtung Silberblick.
Hanna schlich ins Haus zurück. Sie
stieg ins Dach hinauf und weckte Karola, ohne das Licht einzuschalten. Es dauerte
eine Weile, bis sie ihr die Situation erklärt hatte.
»Bitte kümmere dich um Mutter, ich
bin in ein paar Tagen wieder zurück.«
Karola schien nicht begeistert.
»Ich wollte morgen wieder nach Dresden zurück, kannst du deine Probleme nicht allein
lösen?«
»Karola, bitte … hast du etwas Wichtiges
in Dresden zu erledigen?«
»Klar …«, sie hob die Hände und
ließ sie wieder fallen, »na ja, eigentlich nicht.«
»Bitte, bleib bei Mutter. Hier hast
du eine Aufgabe.«
Trotz des Halbdunkels konnte Hanna
erkennen, wie Karola mit sich kämpfte. »Meinst du, ich schaffe das?«
»Ja, Karola, du schaffst das!«
»Und wo willst du hin?«
»Pass auf, ich gehe zu Cindy und
John Valentine, Geleitstraße 4, Freunde von uns. Das darf aber niemand wissen, schon
gar nicht die Polizei. Höchstens Sophie, sonst niemand.«
»Wer ist Sophie?«
»Sophie Kessler, eine Freundin,
sie ist Ärztin.«
»Und Hendrik?«
»Hendrik? Nein, auf keinen Fall.«
»Gut, kann ich dich anrufen?«
»Höchstens über Cindys Festnetzanschluss,
steht im Telefonbuch, ich werde aber nicht immer dort sein. Mein Handy kann ich
nicht mitnehmen, das können die bestimmt orten.«
»Gut, dann nimm einfach mein Handy, wir tauschen, dann können die orten, so viel sie wollen, dein Handy bleibt
immer hier im Haus. Und ich kann dich anrufen.«
»Super Idee!«
»Wenn es darum geht, die Behörden
auszutricksen, findest du keine Bessere als mich.«
Hanna lachte. »Danke, Karola. Für
Mutter musst du eine Ausrede erfinden, ja? Bitte!«
»Mach ich, und nun los.«
Hanna schnappte sich ihren Rucksack
mit etwas Kleidung und ihrem Waschbeutel, steckte Karolas Mobiltelefon ein, versteckte
ihren blonden Haarschopf unter einer Schirmmütze und entschwand im Dunkel der Nacht
als grauer Schatten
Weitere Kostenlose Bücher