Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut
kann mich jederzeit anrufen, ich habe Dienst bis morgen früh.
Gute Besserung!«
Die Nachtschwester war eine stämmige
Person mit einem ausladenden Vorbau. Sie schien ihr Fach zu verstehen und erklärte
mir die Vorbereitungen für die Nacht. Draußen wurde es bereits dunkel. Die Infusion
lief, ich bekam Medikamente, ein paar Schluck Tee – leider nicht mehr – und eine
Klingel, falls ich sie rufen wollte. Ihre Stimme war beruhigend und verständnisvoll.
Als sie sich verabschiedete, sagte sie: »Ach, übrigens, es ist ein Brief für Sie
abgegeben worden, möchten Sie ihn lesen?«
»Ein Brief? Von wem?«
»Keine Ahnung, er lag plötzlich
im Stationszimmer. Ohne Absender.«
Wahrscheinlich eine Überraschung,
von Hanna oder von Benno, dachte ich. »Ja, ich möchte ihn lesen.«
Sie holte den Briefumschlag aus
dem Stationszimmer, legte ihn mir auf die Bettdecke und blieb stehen. Offensichtlich
wollte sie gern wissen, von wem die Nachricht kam. Ich tat ihr den Gefallen, öffnete
den Umschlag und zog ein einzelnes Blatt heraus:
Da liegst Du nun, Du alter
Tor!
Seine Lieben gehen vor,
Frauenstein und Jändertanz,
Sind nun Deine letzte Chance!
BB618c
Mir wurde schlagartig schwindlig und die schöne, weiße Welt, an die
ich mich gerade gewöhnt hatte, verschwand im Nebel. Von irgendwo hörte ich noch
einen Alarmton und den Ruf der Nachtschwester. Dann versank ich in dem tiefen See
der Zeitlosigkeit.
4. Kapitel
Donnerstag, 26. August 2004. Der Tag, an dem ich rot sah.
D r. Franke hatte gute Arbeit geleistet. Er schaffte es, den Haftrichter
davon zu überzeugen, dass meine Fingerabdrücke an einem mobilen Gegenstand in Balows
Wohnung kein unumstößlicher Beweis dafür waren, dass ich persönlich dort gewesen
sein musste. Und dass es schon gar kein Beweis für meine Täterschaft war. Zumal
die Kriminaltechnik inzwischen herausgefunden hatte, dass die Gläser aus der Born-Senf-Produktion
in Bad Langensalza stammten. Da der Born-Senf in Thüringen sehr populär ist, handelte
es sich bei den Gläsern um leicht zugängliche Massenware, die keine Rückschlüsse
auf irgendein spezielles Geschäft und erst recht nicht auf eine bestimmte Person
zuließen. Dem Richter ging es hauptsächlich um die Frage, ob ich mich jemals in
dieser Wohnung aufgehalten hatte oder nicht. Und dies konnte nicht zweifelsfrei
bewiesen werden. In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten. Dr. Franke meinte
später, dass mein Gesundheitszustand sicher auch zu dieser Entscheidung beigetragen
hätte. Somit kam ich aus der Untersuchungshaft frei, musste mich aber täglich um
9 Uhr auf der Polizeiwache in der Carl-von-Ossietzky-Straße melden. Solange ich
im Krankenhaus lag, sollte jeden Morgen ein Polizist prüfen, ob ich noch anwesend
war.
Dies alles berichtete mir Sophie
am nächsten Mittag.
»Du bist also wieder frei«, meinte
sie, »das ist die gute Nachricht.«
»Verstehe.« Die nächste Frage lag
auf der Hand, ich brauchte sie nicht zu stellen.
»Die schlechte Nachricht: Während
du den Brief gelesen hast, ist dein Blutdruck abgesackt, ebenso die Herzfrequenz,
du bist in einen Schockzustand gefallen. Nachdem wir dich wieder so weit aufgepäppelt
hatten, dass dein Kreislauf stabil war, habe ich einen Internisten hinzugezogen,
der ein EKG und eine Ultraschalluntersuchung deines Herzens durchgeführt hat …«
Ich nickte.
»Er hat keinerlei Unregelmäßigkeiten
feststellen können«, fuhr sie fort, »du bist körperlich kerngesund.«
Was dies bedeutete, war mir sofort
klar. »Psychosomatisch?«
»Ja«, antwortete Sophie, »das Ganze
ist eine psychosomatische Reaktion, die ich in dieser Ausprägung noch nie erlebt
habe. Durch die Psyche verursachte körperliche Symptome sind bekannt, wir haben
darüber bereits diskutiert …«
Ich erinnerte mich.
»… aber ein Fall wie dieser, bei
dem ein Patient in einen Schockzustand fällt, ist sehr ungewöhnlich.«
»Ich bin ja sowieso ungewöhnlich«,
entgegnete ich mit einem Augenzwinkern.
Sie lächelte charmant. »Das stimmt!«
Und mit ernster Stimme fuhr sie fort: »Aber pass bitte auf, die Mordanklage macht
dir anscheinend sehr zu schaffen!«
Ich machte eine zustimmende Handbewegung.
»Wenn du psychologische Unterstützung
brauchst, sag bitte Bescheid, ich kann das für dich arrangieren …«
»Danke«, sagte ich, vielleicht eine
Spur zu schroff. »Ich schaffe das schon.«
Sie merkte, dass ich das Thema beenden
wollte. Sie fragte auch nicht mehr nach dem Inhalt des
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