Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut
sagen, griff sie
in ihren Nacken, öffnete den Verschluss und reichte mir die Kette. Ihr Gesicht war
rot angelaufen.
»Danke«, sagte ich.
Dann stand ich auf dem Flur und
sah zu, wie sie zum Aufzug rollte. Kurz bevor sie einstieg, winkte sie mir zu.
Manchmal wäre es gut, sich ein paar
Minuten hinzusetzen und über ein Gespräch nachzudenken, dem nachzuspüren, was die
Essenz des Gesagten und des Gehörten war. Aber wieder einmal blieb keine Zeit dazu,
Meininger und ich mussten zu Rico Grüners Vernehmung. Auf dem Weg zum Vernehmungsraum
fiel mir etwas Wichtiges ein. »Meininger, Frau Grüner hat berichtet, dass ihr Bruder
auch Judo trainierte, nicht nur Kendo. Können Sie feststellen, ob beim Judo Würgegriffe
benutzt werden? Sie wissen schon, die Aussage von …«
»… Professor Schymski, ich weiß.
Und ich habe das bereits recherchiert. Beim Judo werden tatsächlich Würgegriffe
eingesetzt, natürlich nur zu rein sportlichen Zwecken. Im Zweifelsfall wird sofort
abgeschlagen.«
»Was heißt das?«
»Der Unterlegene schlägt mit der
Hand auf den Boden, als Zeichen dafür, dass er aufgibt.«
»Und wenn er nicht mehr abschlagen
kann, weil er bereits bewusstlos ist? Wir haben gehört, dass das sehr schnell gehen
kann.«
Meininger hob seine schuppenübersäten
Schultern. »Weiß ich auch nicht.«
»Wie sind Sie überhaupt darauf gekommen,
dem Thema Judo nachzugehen?«
»Ich habe nicht nach Judo gesucht,
sondern nach Sportarten, in denen Würgegriffe eingesetzt werden.«
Zum ersten Mal musste ich Meininger
einen gewissen Respekt zollen.
»Sehr gut!«
Rico Grüner war mir vor allem durch seine hagere Gestalt und seine
fahrigen Bewegungen in Erinnerung geblieben. Sein Gesicht war mir fremd. Er saß
hinter der großen Scheibe in genau dem Vernehmungsraum, in dem Hanna und ich auch
schon gesessen hatten, und strahlte eine unübersehbare Arroganz aus. Ich begann
zu ahnen, was Siggi mit der Bemerkung ›Diese Vernehmung wird nicht einfach‹ gemeint
hatte. Lehnert und ich beobachteten das Geschehen von außen. Auch die Staatsanwältin
hatte sich angekündigt.
Kaum hatten Siggi und Meininger
den Raum betreten, stand Rico Grüner auf: »Na endlich, ich warte hier schon seit
einer Stunde, was soll das denn?«
»Nun sind wir ja da, also setzen
Sie sich bitte!«, sagte Meininger.
Bevor Grüner etwas antworten konnte,
öffnete sich die Tür und Frau Sobeck trat ein, mit einem Schreibblock unter dem
Arm, so wie letzten Mittwoch.
»Herr Grüner, das ist Frau Sobeck«,
erklärte Siggi, »sie wird alles, was Sie sagen, aufschreiben. Das hat den Vorteil,
dass Sie es sofort kontrollieren können, um versehentliche Fehler zu vermeiden.
Ist das in Ordnung?«
»Wie Sie meinen!«, brummte Grüner.
»Gut, Frau Sobeck, bitte notieren
Sie, dass der Angeklagte mit dem vorgeschlagenen Ablauf der Vernehmung einverstanden
ist.«
Die Angesprochene nickte und schrieb
in atemberaubender Geschwindigkeit auf, was Siggi ihr vorgegeben hatte. Meininger
saß Rico Grüner gegenüber, Frau Sobeck an der einen Seite des Tisches, Siggi ihr
gegenüber an der anderen Seite.
»Warum wird nicht alles auf Band aufgezeichnet?«, fragte ich Lehnert,
»die manuelle Mitschrift ist doch sehr mühsam und langwierig.«
»Das ist die spezielle Arbeitsweise
von KHK Dorst«, antwortete er, »Sie werden schon sehen …«
Siggi fragte Rico Grüner, ob er einen Anwalt wolle. Nein, antwortete
dieser, das könne er schon selbst regeln.
Nach den üblichen Formalitäten,
Name, Adresse, Geburtsdatum und dergleichen, sagte Siggi: »Herr Grüner, Sie werden
beschuldigt, Fedor Balow, Hans Gegenroth und Daniel Baumert ermordet zu haben …«
»So ’n Quatsch …«
»Bitte lassen Sie mich ausreden,
danach können Sie antworten. Weiterhin wird Ihnen zur Last gelegt, Mordanschläge
auf Herrn Wilmut und Frau Birken ausgeübt zu haben. Möchten Sie dazu eine Aussage
machen?«
»Was für ’n Unsinn, ich hab nur
den Bruch in der Tiefurter Allee gemacht, sonst nichts.«
»Aha«, erwiderte Siggi, »einen Bruch
am hellen Nachmittag, während sich drei Personen im Haus befanden?«
»Mir doch egal, ich kann so was.«
Grüner lehnte sich locker zurück und streckte in fast schon provozierender Manier
die Beine aus.
»Das haben wir ja gesehen«, sagte
Meininger, »bereits auf der Terrasse wurden Sie abgefangen. Tolle Leistung!« Dabei
fuhr er sich ebenso lässig mit seinem Schuppenrechen durchs Haar.
»Pah! Abgefangen!« Rico Grüner setzte
sich auf.
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