Goetheglut: Der zweite Fall für Hendrik Wilmut
Gott, ich raste über
die Straße, durch den Vorgarten, ins Haus, durch den Flur und das Wohnzimmer, wie
in Trance. Benno lag auf dem Terrassenboden, Tante Gesa und Jasmin waren bei ihm,
sie hatten ihm ein Kopfkissen untergeschoben. Dann sah ich, dass sein Kopf unnatürlich
schräg weg stand. Er atmete schwer. Jasmin kühlte seinen Nacken mit Wasserkompressen.
Ich wollte gerade fragen, was passiert war, da sah ich das Kendo-Schwert zwischen
den Astern liegen. Tante Gesa und Jasmin weinten.
»Er hat ihn kommen sehen«, sagte
Onkel Leo, »er wollte uns verteidigen, mit einem Spaten. Keine Chance, der Kerl
war unheimlich wendig und schnell. Wahrscheinlich hat Kommissar Dorst ihm das Leben
gerettet. Als der Mann gerade zuschlagen wollte, hat er einen Schuss in die Luft
abgegeben. Das hat ihn irritiert. Er hat Benno am Nacken getroffen. Ich weiß nicht
…« Seine Stimme zitterte.
Die Notärztin kam durch den Garten
gerannt. Es war Sophie.
Als ich einigermaßen wieder zu mir kam, war es 16.30 Uhr. Ich hatte
das Gefühl, dieser Tag würde nie zu Ende gehen. Benno war bereits im Krankenhaus,
Tante Gesa war mit ihm gefahren. Sie hatte mich davon überzeugt hierzubleiben, sie
wollte mich auf dem Laufenden halten. Onkel Leo kümmerte sich um Jasmin. Sie war
völlig aufgelöst und machte sich Vorwürfe, sie sei schuld an Bennos Verletzung.
»Hoffentlich wird er wieder gesund«, sagte sie ein ums andere Mal. Ich verstehe
nicht viel von medizinischen Fragen, aber eines war klar: Sein Zustand war ernst.
Rico Grüner war von einem Streifenwagen
abgeholt worden. Siggi kam zurück ins Haus. Ich saß in der Küche und hatte ein ganzes
Blech Streuselkuchen vor mir stehen. Frustessen pur. Er setzte sich zu mir.
»Ich … es tut mir leid mit Benno«,
sagte er.
»Mach dir bloß keine Vorwürfe, Onkel
Leo hat mir alles erzählt. Du hast ihm wahrscheinlich das Leben gerettet.«
Er sah mich zweifelnd an.
»Grüner ist ein ausgebildeter Kendo-Kämpfer,
wenn der ungestört den richtigen Punkt trifft, ist nichts mehr zu machen. Siehe
Daniel Baumert.«
Siggi nickte. »Stimmt, sogar mit
einem handelsüblichen Besenstiel, wir haben es rekonstruiert, keine Eisenstange.
Offensichtlich trug er keine Handschuhe. Wir haben verwertbares DNA-Material gefunden,
es ist auf dem Weg zu Professor Schymski.«
Onkel Leo kam herein: »Aro?«
Wir nickten beide. »Aber nur einen
bitte, Herr Kessler, der Tag ist noch nicht zu Ende.«
»Für mich schon«, sagte ich.
»Leider nicht, Hendrik, ich brauche
dich bei Grüners Vernehmung, das wird nicht einfach. Du musst nur von außen zuhören
und mir eventuell einige Tipps geben. Du kennst ihn am besten.«
»Ach, Siggi, muss das wirklich sein?
Ich möchte zu Hanna, und dann zu Benno …«
Er überlegte. »Na gut, es dauert
sowieso noch bis zur Vernehmung, erkennungsdienstliche Behandlung, ärztliche Untersuchung
und so weiter, 18 Uhr reicht. Dann kannst du vorher noch zu Hanna.«
»Also meinetwegen«, brummte ich.
Als ich nach dem Aro greifen wollte,
merkte ich, dass mein linker Arm höllisch brannte, vom Handgelenk bis hoch zum Ellenbogen.
Hoffentlich nicht schon wieder ins Krankenhaus. Ich nahm den Aro mit der rechten
Hand, wir stießen an. An Onkel Leos Garderobe fand ich einen Schal, den ich als
Armschlinge verwendete. Dann bat ich Siggi, mich in der Humboldtstraße abzusetzen.
Als ich bei Büchlers klingelte, öffnete Karola die Tür.
»Hallo, Klonschaf-Wilmut!«, lachte
sie.
»Mensch, Karola, ich freu mich,
dich zu sehen!« Vor zwei Wochen wären mir diese Worte sicher nicht über die Lippen
gekommen. Wir umarmten uns. Bevor ich etwas fragen konnte, kam ein Mann in einem
grünen Hemd aus dem Wohnzimmer, etwa mein Alter, der Typ aus meinem Tagtraum vor
der brennenden Bibliothek.
»Das ist Günther Bergengruen, mein
Vater«, stellte Karola mit unterschwelligem Stolz vor, »er war gerade in der Stadt
…«
Ich erinnerte mich, der CDU-Parteitag,
das opportunistische Arschloch – aber auch ihr Vater. Wir begrüßten uns förmlich.
»Wo ist Hanna?«, wollte ich wissen.
»Bei Mutter, es geht ihr besser!«
Vorsichtig klopfte ich an die Schlafzimmertür.
Ein recht kräftiges »Herein!« ertönte von drinnen. Ich war sehr glücklich, Hanna
zu sehen, und auch froh, dass es Frau Büchler deutlich besser ging. Ich umarmte
beide, küsste Hanna, wollte sie fühlen und bei mir haben. Karola und ihr Vater standen
in der Tür. Offensichtlich hatten sich alle zu einem vernünftigen, toleranten
Weitere Kostenlose Bücher