Goetheruh
Abendluft herein. Die Stunde körperlicher Arbeit hatte mir gut getan, meinen Geist irgendwie geklärt, meine Sinne geöffnet.
In der Hoffnung, dass mir eventuell etwas Neues auffallen könnte, nahm ich nochmals die Liste mit den geraubten Kunstwerken und den zugehörigen Nachrichten von jwg2 zur Hand.
1.
Bucht von Palermo und Monte Pellegrino
Kleines Esszimmer
Christoph Heinrich Kniep, 1788
Federzeichnung, aquarelliert
Wie ich hereingekommen, ich kann’s nicht sagen
2.
Goethes Gartenhaus von der Rückseite
Christianes Wohnzimmer
Goethe, 1779/80,
Grafit, Feder mit Tusche und Blister, blaue Wasserfarbe
Sag ich’s euch, geliebte Bäume
3.
Fußschemel vor Sterbestuhl
Goethes Schlafzimmer
Tabonret, 1828
Füße aus bronziertem Messingblech mit Bacchusköpfen, Seiten mit grünem Leder, bezogen mit Handstickerei (stilisierter antiker Kopf), Geschenk der Pianistin Maria Szymanowska
Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche hier wird’s Ereignis;
Das Unbeschreibliche hier ist’s getan.
4.
Porträt von Cornelia
Dichterzimmer, Frankfurt a. M.
Goethe, 1771/73, handgezeichnet
schwarze Kreide auf grauem Papier
Schwester von dem ersten Licht,
Bild der Zärtlichkeit in Trauer!
Nebel schwimmt mit Silberschauer
Um dein reizendes Gesicht
5.
Italienische Venus, Bronzestatuette auf Holzpodest
15 cm hoch, 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts, Original aus Italien
Großes Sammlungszimmer, Sammlungsschrank
Und Hintendrein kommen wir bey Nacht
Und vögeln sie daß alles kracht!
6.
Bleistiftzeichnung: Christiane Vulpius auf einem Sofa schlafend
Goethe 1788
Christianes Wohnzimmer
›Danke für den Besuch‹
Satz für Satz ging ich alles durch, wieder und wieder. Und jedes Mal stolperte ich über den seltsamen Vers aus Hanswursts Hochzeit . Warum verwendete er hier den Plural statt des Singulars? Desirees Worte zu Jens und seiner Krankheit kamen mir in den Sinn. ›Wir‹ … warum ›wir‹ – plötzlich hatte ich es verstanden. Er war abgedriftet in eine multiple Persönlichkeitsstruktur!
Aus dem Nebel des Unklaren tauchte die Erkenntnis auf, langsam aber deutlich. Er führt ein inneres Doppelleben. Eine seiner beiden Persönlichkeiten ist der brave Sohn, der Abiturient, der mit viel Rotz und Tränen versucht, dem Idealbild seiner Eltern gerecht zu werden. Die andere Persönlichkeit ist der Goethe der Neuzeit, der schlecht geklonte Dichterfürst, der mit viel Schweiß und Blut versucht, das goldene Zeitalter wiedererstehen zu lassen.
Ich rief den Psychologen an und ließ mir das Krankheitsbild der multiplen Persönlichkeit genau erläutern. Er erklärte mir, dass es bei diesen Patienten sogar passieren könne, dass beide Persönlichkeiten verschiedene Namen haben, die von dem Individuum auch benannt werden. Der Kranke spricht dann von seiner zweiten Persönlichkeit wie von einer anderen Person und von sich selbst als ›Wir‹. Es ist auch möglich, dass mehr als zwei Identitäten nebeneinander existieren, wobei jede eine andere persönliche Geschichte und ein anderes Selbstbild hat. Gewöhnlich existiert eine primäre Identität, die den Namen des Individuums trägt. Diese ist in der Regel passiv bis depressiv und hat Schuldgefühle.
Ich muss gestehen, dass ich die extremen Ausuferungen, die dieses Krankheitsbild mit sich bringen kann, nicht in diesem Umfang erwartet hatte. Auf meine Frage, wie die dissoziative Identitätsstörung entsteht, berichtete der Psychologe, dass es in den Patienten Selbstanteile gibt, die auseinandergehalten werden müssen, da ein Aufeinandertreffen zu schmerzlich wäre. In der Regel geht es dabei um ins Bewusstsein einschießende traumatische Erinnerungen, die nur verarbeitet werden können, wenn sie einer anderen Persönlichkeit zugeordnet werden.
Zuletzt wies er mich noch darauf hin, dass diese Erkrankung sehr gefährlich für den Patienten werden kann, da sich die verschiedenen Identitäten häufig feindselig gegenüberstehen, sich wechselseitig kontrollieren und sogar zerstörerisch aufeinander einwirken.
Als ich auflegte, bemerkte ich, dass es bereits 23 Uhr war, doch den Psychologen schien das nicht gestört zu haben.
Ich trat an das Dachfenster und sah hinaus über die Dächer von Weimar. Die Nacht hatte von der Stadt Besitz ergriffen. Und in gewisser Weise auch von Jens Gensing.
War die Erkenntnis von der multiplen Persönlichkeitsstruktur wichtig? In Bezug auf die Analyse seiner Kommunikation
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