Goetheruh
ich hatte Mühe, stehen zu bleiben.
»Danke!«, sagte ich gedehnt und sackte auf die Parkbank. Diese Bank, dieser Park und diese Stunde kamen mir plötzlich vor wie der Fokus aller kriminalistischen Geschehnisse, wie ein Fixpunkt, um den die Welt unseres Falles sich drehte. Ich sah Cindy vor mir, ich sah ihre Gestalt und plötzlich wusste ich, was er vorhatte.
»Hanna hat recht. Er hat sie. Mich reizt Deine schöne Gestalt … Cindy und Christiane, das sind die gleichen Gestalten – sie ist sein Christiane-Ersatz, lebenslustig, anziehend, natürlich, voll im Leben. Und bist Du nicht willig, so brauch ich Gewalt … Er hat sie sich geholt, er will sie bei sich haben!«
Hanna hielt die Hände vor den Mund. Sie hatte diesen Gedankengang in Bewegung gebracht und nun wurde er zur beängstigenden Gewissheit.
»Und außerdem haben sie die gleichen Initialen – Cindy Valentine und Christiane Vulpius – beide CV!«
Es dauerte eine Weile, bis wir die neue Dimension des Falles begriffen hatten.
»Wir müssen sofort zu Siggi!«, meinte Hanna.
Ich zögerte. Dieser Park – hier war irgendetwas. Etwas, das unsere Gedanken beflügelte und uns voranbrachte.
»Kleinen Moment!« Ich rief Siggi an: »Wir haben etwas sehr Wichtiges herausgefunden. Jens Gensing hat aller Wahrscheinlichkeit nach Cindy Valentine entführt. Du musst sofort hierher kommen!«
»Wo seid ihr?«
Es tat gut, dass Siggi alles ernst nahm, was ich sagte. Jeder andere Polizist hätte mich jetzt wahrscheinlich für verrückt erklärt. »Auf einer Bank im Ilmpark, direkt neben Goethes Gartenhaus.«
Er stockte einen Moment.
»Bitte komm zu uns«, wiederholte ich, »hier kann man freier seinen Gedanken nachgehen als in eurem alten Bunker.«
Das schien ihn zu überzeugen. »Na gut, bis gleich!«
Wir redeten wenig, hingen unseren Gedanken nach und versuchten uns abzulenken, indem wir mit Desirees Hund spielten.
Siggi hatte sich wirklich beeilt. Zehn Minuten später kam er uns entgegen. Sein blanker Schädel leuchtete in der Abendsonne, seine drahtige Gestalt wirkte sympathisch.
»Das ist Hauptkommissar Dorst, äh … Siggi«, sagte ich, »und das ist Desiree, sie ist die Ärztin von Jens Gensing.«
Siggi setzte sich im Schneidersitz auf den Rasen, wir taten es ihm gleich, Pudel kam in die Mitte. Ich erklärte ihm in kurzen Worten unsere Theorie von Christiane und Cindy. Seine Stirn lag in Falten, während er überlegte. Dann rief er Kommissar Hermann an.
»Hier Dorst! Hermann, fahren Sie bitte umgehend in die Psychiatrie und prüfen Sie die Schuhgröße eines Patienten namens …?« Er sah Desiree an.
»Brauer, Herbert Brauer!«
»… namens Herbert Brauer. Ja … nein, nicht er selbst, wahrscheinlich hat Gensing seine Schuhe benutzt, das machte er wohl immer wieder. Nein, ja … gut. Unser neues Hauptquartier befindet sich jetzt übrigens im Ilmpark, eine kleine Sitzgruppe direkt neben Goethes Gartenhaus … nein nicht im Gartenhaus, daneben, zwischen den Blumen. Ja klar haben wir hier Telefon, ungefähr vier Handys, meine Nummer und die von Hendrik Wilmut haben Sie ja … alles klar, danke, bis später!«
Wir warteten gespannt.
»Wenn die Schuhgröße passt, wäre die Täterschaft für uns klar, aber ob das für den Haftrichter reicht – ich weiß nicht …«
»Zusammen mit der E-Mail an Clarissa Singer?«
Siggi wiegte den Kopf hin und her. »Für eine vorläufige Festnahme sollte es genügen, dann sehen wir weiter!«
Die Sonne stand tief, aber es war noch sehr warm. Pudel beschnupperte Siggis Hosenbein. Der Hauptkommissar warf ein Stöckchen auf die Wiese vor dem Gartenhaus und der Hund sprintete davon. Siggi machte einen in sich ruhenden Eindruck.
Plötzlich hielt er inne. Pudel stand erwartungsvoll vor ihm.
»Hendrik!« Er tippte mir mit dem Stöckchen auf die Schulter, »wenn ich das richtig verstehe, hat unser Mann ein zwanghaftes Bestreben, sich mit Personen zu umgeben, die engen Vertrauten des wirklichen Goethe in Charakter und … Verhalten sehr ähnlich sind.«
»Besser hätte man es nicht ausdrücken können«, bestätigte ich.
»Und die zudem die gleichen Initialen besitzen?«
»Genau.«
»Deswegen glaube ich, dass Clarissa Viola Singer mit den Initialen CVS seine persönliche Symbolperson für Charlotte von Stein ist.«
Ich stand auf und sah ihn erstaunt an. »Du meinst also, er hat die sogenannten Zettelgen, die Goethes Bote durch die Seifengasse hin- und hertragen musste, durch E-Mails ersetzt?«
»Genau so ist
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