überhaupt von Weimar und vielleicht noch nicht einmal von der ganzen Welt da draußen. Selbst die Zeitung warf ich unter die Couch, um die Titelzeile nicht dauernd im Blick haben zu müssen.
Die alte Gaggia-Maschine gurgelte vor sich hin. Selbst die Lust auf einen Espresso war mir vergangen. Ich überlegte, ein spätes Mittagessen zu mir zu nehmen, doch ich hatte keinen Appetit. Draußen hatte es leicht angefangen zu regnen. Eine Nachbarin klingelte, um sich eine Zwiebel zu leihen. Ich gab sie ihr widerwillig, ohne ein Wort zu sprechen.
Ich versuchte, mich abzulenken und schaltete den Fernseher ein. Es liefen Nachrichten. Die konnte ich nicht ertragen und schaltete um. Ein paar Minuten blieb ich bei einer Nachmittags-Talkshow hängen, bis mir diese zu niveaulos wurde und ich den Fernseher wieder ausmachte. So saß ich da, in meinem Zimmer, und ich brütete vor mich hin. Sogar der Gedanke an Hanna konnte mich nicht aufmuntern.
Ich sah sie vor mir, ihre wachen, blauen Augen, ihre blonden Haare. Hanna, die Vermittlerin. Schon als Jugendliche hatte sie so manchen unsinnigen Streit geschlichtet, ohne dabei ihre eigene Meinung zurückzuhalten. Ihr ging es nicht darum, einen Streit um jeden Preis zu verhindern. Ein rechtes Wort zur rechten Zeit – und zwar mit Streitkultur. So war Hanna. Und auch dafür liebte ich sie.
Ja, ich liebte sie, und es war an der Zeit, mir das einzugestehen. Als kleiner Junge hatte ich von meiner Großmutter in Weimar wissen wollen, woran man eigentlich erkennen konnte, dass man verliebt sei. Sie hatte geantwortet: ›Verliebt bist du, wenn du immer in ihrer Nähe sein möchtest.‹ Ich hatte mit dieser Antwort nichts anfangen können, brauchte etwas Konkreteres. Schmunzelnd hatte sie gesagt: ›Ganz sicher verliebt bist du, wenn du dir vorstellen kannst, ihre Zahnbürste zu benutzen.‹ Das war eine klare Aussage. Und damals wie heute hatte ich kein Problem, Hannas Zahnbürste zu benutzen.
Irgendwie musste ich im Sessel eingeschlafen sein, jedenfalls wachte ich kurz nach 23 Uhr wieder auf. Mühsam stemmte ich mich hoch und schleppte mich ins Schlafzimmer. Als ich am Schreibtisch vorbeikam, fiel mein Blick eher beiläufig auf die neu eingegangenen E-Mails. Ich schnappte nach Luft. Eine Nachricht von ›
[email protected]‹. Der Täter!
Woher hatte der Kerl meine E-Mail-Adresse? Was wollte er von mir? Ich zwang mich, mehrmals tief durchzuatmen. Plötzlich merkte ich, dass ich fror, und warf mir schnell eine Jacke über. Meine Hand zitterte, als ich die Nachricht öffnete:
Und hinten drein kommen wir bey Nacht,
und vögeln sie daß alles kracht.
*
Er hatte sich schon immer eine Schwester gewünscht, eine kleine Schwester, um die er sich kümmern konnte, auf die er aufpassen und die er beschützen konnte. Doch seine Eltern wollten davon nichts wissen. ›Eine Geburt reicht mir‹, hatte seine Mutter geantwortet.
Nun hatte er sich selbst eine Schwester besorgt. Er hatte sie gesehen, der Mond schien durch das Fenster, und ihr Gesicht glänzte silbern. Er musste sie mitnehmen, es ging gar nicht anders, der Drang war zu stark.
Er spielte für sie Klavier, zeigte ihr seine Bücher, seine Bilder und Statuen. Er nahm sie oft mit, wenn er sein Zimmer verließ und durch Weimar fuhr. Heute saß er mit ihr auf einer Bank im Ilmpark, nicht weit von Goethes Gartenhaus. Und er erinnerte sich an gestern.
Gestern hatte sich plötzlich alles geändert. Welch ein Zufall, welch ein wahnsinniger Zufall! Er hatte gerade das Haus verlassen wollen und im Flur nach seiner Jacke gegriffen, als er im Papierkorb neben der Garderobe ein zerrissenes Blatt Papier liegen sah. Er entdeckte einige seltsame Kreise, Pfeile und Symbole. Als er die Papierschnipsel neugierig herausnahm und betrachtete, erkannte er am Rand den Rest eines Wortes: ›…eld‹. Und in der Mitte stand in großen Lettern ein Name: ›Siegfried Dorst‹. Schlagartig wurde ihm klar, welch wichtiges Dokument er da gefunden hatte. Es konnte sich nur um seine Gegner handeln, die vier Männer, die seinen Plan vereiteln wollten. Seinen großen Plan. Als er die anderen Papierfetzen untersuchte, fand er einen zweiten Namen. Einen Namen, den er nicht kannte: ›Hendrik Wilmut‹. Und der stand neben einem Strichmännchen, das größer war, als das von Siegfried Dorst. Er stand wie angewurzelt im Flur und traute kaum seinen Augen.
Schlagartig realisierte er, dass nicht Hauptkommissar Dorst sein Hauptgegner war, sondern dieser Wilmut. Auch wenn er den