Goetheruh
Goethe selbst gezeichnet worden war. Danach wurde es noch persönlicher, da Goethe auf diesem Schemel ruhend verstarb. Mit dem Frankfurter Diebstahl erfolgte nun ein Rückgriff auf einen essenziellen Teil von Goethes Frankfurter Zeit, in der wichtige Frühwerke entstanden waren. Zudem wurde Goethes Schwester mit einbezogen, zu der der Dichter eine starke Bindung hatte. Und zwar nicht nur als Bruder sondern auch als Schriftsteller. Dieses Porträt war – ebenso wie das Gartenbild – ein handschriftliches Dokument von Goethe. Ich überlegte. Alle gestohlenen Dinge, standen in einem sehr persönlichen Zusammenhang mit Goethe und alle waren Originale … ja genau: Originale!
Plötzlich wurde mir die Bedeutung dieses Begriffes bewusst: Beide Goethehäuser hingen voll von Kopien, nicht zuletzt deswegen, weil Goethe selbst viele Kopien von antiken Kunstgegenständen gekauft hatte oder eigens anfertigen ließ. Die antike Klassik stand damals hoch im Kurs, aber nachweislich war Goethe oft nicht an die Originalstücke herangekommen oder sie waren zu teuer gewesen. Der Täter wollte also Originale, er wollte zeitauthentische Gegenstände an sich bringen. Das war nicht viel an neuen Erkenntnissen, wahrlich nicht, aber zumindest wieder ein kleiner Schritt vorwärts.
Erst viel später sollte ich begreifen, welch wichtiger, tatrelevanter, ja vielleicht sogar tatinitiierender Zusammenhang mir in diesem Moment klar geworden war.
Ich blickte auf die Uhr. Die Zeit für die Gruppenarbeit war fast um. Ich fuhr meinen Laptop herunter, grüßte einige Studenten aus den unteren Semestern und schaltete mein Handy aus, um mich wieder dem Seminar zu widmen. Die Vorstellung der Ergebnisse im Plenum verlief etwas zäh und ich musste viel unternehmen, um das Ganze in Schwung zu bringen, selbst die anschließende Diskussion verlief sehr schleppend und ich machte mir Vorwürfe, die Gruppen nicht genügend unterstützt zu haben.
Wie geplant stellte ich gegen 15 Uhr meinen Volvo im Parkhaus am Dom ab und lief hinüber zum Römerberg. Es erstaunte mich selbst, dass ich viel pünktlicher wurde, seit ich mit dem Fall JWG beschäftigt war. Ich überquerte die Braubachstraße und lief schräg über den großen Platz an der Paulskirche vorbei. Die Frankfurter Innenstadt war voll von flanierenden Paaren und Touristen. Überall saßen Leute in den Straßencafés oder eilten hinauf zur Zeil, um einzukaufen. Zehn Minuten später hatte ich das Goethehaus am Großen Hirschgraben erreicht.
Natürlich war ich schon oft in Goethes Elternhaus gewesen, doch heute kam mir das alte Gebäude irgendwie verändert vor. Es sprach in einer anderen Sprache zu mir. Vielleicht lag es daran, dass ich erst kurz zuvor das Weimarer Goethehaus besichtigt hatte und nun automatisch einen Vergleich zog. Jedenfalls fiel mir beim Blick auf die Treppe im Erdgeschoss diesmal auf, wie ähnlich sie der nachträglich von Goethe in Auftrag gegebenen Treppe in Weimar war. Alle beschrieben diese als die italienische Treppe und führten ihr Entstehen und ihr Design auf Goethes erste Italienreise zurück. Doch jetzt hatte es für mich eher den Anschein, als wäre die Weimarer Treppe eine Reminiszenz an seine Kindheit.
Die beeindruckendsten Stücke des Hauses befanden sich in den Fluren der drei oberen Stockwerke. Wenn man die Treppe in den ersten Stock hinaufging, blickte man sofort auf die beiden phänomenalen Frankfurter Schränke, in denen Goethes Mutter ihren reichhaltigen Vorrat an Wäsche aufbewahrt hatte. Glaubhaften Quellen zufolge besaß sie 144 Garnituren Bettwäsche zu je fünf Teilen, dazu Tischwäsche, Küchentücher und dergleichen.
Da ich sofort ins Dichterzimmer wollte, begab ich mich weiter auf die zweite Ebene. Hier wurde der Blick sofort von der großen astronomischen Standuhr angezogen. Sie war von zwei Neuwieder Uhrmachermeistern geschaffen worden und enthielt außer dem normalen Zifferblatt ein Sonnenstandzifferblatt mit den Tierkreiszeichen und ein Mondzifferblatt, das die jeweilige Mondphase optisch darstellte. Dazu der Bärenfänger, der anzeigt, wann die Uhr aufgezogen werden muss – ein Meisterwerk der Uhrmacherkunst. Nicht nur Goethe wurde als Kind magisch von dieser großen Standuhr angezogen, auch ich erlag bei jedem Besuch im Goethemuseum wieder ihrer Faszination.
Ich riss mich von dem Anblick los und erklomm die Stufen zum dritten Stock. Mein Herz klopfte. Ich betrat das Dichterzimmer. Die Lücke klaffte links neben der Tür zum Puppentheaterzimmer.
Weitere Kostenlose Bücher