Goetheruh
Das gleiche Gefühl wie in Weimar. Stilles Entsetzen. Ohnmacht.
Er hatte sich absichtlich dieses Zimmer ausgesucht, ich spürte das. Hier wurde der Werther zu Papier gebracht, der Götz, Clavigo, der Urfaust. Von Goethe persönlich niedergeschrieben, denn damals hatte er noch keinen angestellten Schreiber. Was wollte der Dieb? Goethe nahe sein? Ihn imitieren? War er ein verhindertes Dichtergenie, abgeblitzt bei Verlagen und Literaturkritikern? Der Gedanke, dass er mit den gestohlenen Ausstellungsstücken Geld machen wollte, lag mir fern. Aber das war nicht mehr als ein Bauchgefühl. Weitere Handzeichnungen Goethes hingen an den Wänden. Der Sesenheimer Pfarrhof, eine Erinnerung an Friederike Brion. Der Kühhornshof bei Frankfurt. Eine Federzeichnung seines eigenen Arbeitszimmers. Doch keines war so persönlich wie das Porträt seiner geliebten Schwester Cornelia.
Der Universitätsalltag forderte meine Präsenz und Konzentration. Am Mittwoch, meinem dritten und letzten Vertretungstag, wurde ich mitten in der Vorlesung unterbrochen. Die Sekretärin unseres Institutsleiters kam hereingestürmt und rief aufgeregt, ich solle umgehend den Kriminalrat anrufen. Die Studenten waren natürlich neugierig – und begeistert zugleich. Sie wollten sofort wissen, um was es ging, doch ich lehnte jede Auskunft ab, mit dem Hinweis, dass es sich um ein laufendes Ermittlungsverfahren handele. Damit schürte ich die Neugier natürlich erst recht und wurde mit Fragen bombardiert. Ich verordnete zehn Minuten Pause und rannte ins Institutsbüro. Leider wusste die Sekretärin weder den Namen des Kriminalrats, noch seine Telefonnummer, da sie selbstverständlich angenommen hatte, der Anruf käme aus dem Frankfurter Präsidium. Ich vermutete jedoch, dass es Siggi oder Göschke gewesen waren und rief deshalb zuerst Benno an. Und damit lag ich absolut richtig.
»Hendrik, gut dass du zurückrufst, gestern Abend …«
»Was war gestern Abend?«, schrie ich fast in den Telefonhörer.
»Gestern Abend …«
»Benno!«
»… ist wieder etwas gestohlen geworden.«
Ich stand da, mit dem Telefonhörer in der Hand und hatte das Gefühl, als betrachtete ich mich selbst von oben. Ich sah mich als steife, unbewegliche Puppe, nicht in der Lage, irgendetwas zu tun, geschweige denn etwas Sinnvolles zu sagen.
»Wo, aus dem Goethehaus? In Weimar?« Völlig überflüssige Fragen.
»Ja, eine Bronzestatue ›Italienische Venus‹. Wir wissen wieder nicht, wie es passiert ist. Siggi und sein Team sind derzeit mit der Spurensicherung beschäftigt. Außerdem …«
»Was denn noch?«, fragte ich matt.
»Siggi musste Oliver Held freilassen, aus Mangel an Beweisen.«
Ich hatte kaum Kraft, den Kopf zu schütteln. Bisher hatte ich die Taten immer nur theoretisch betrachtet, quasi wie ein Sachbearbeiter, vom Schreibtisch aus. Doch jetzt erlebte ich ganz unmittelbar die Ohnmacht derjenigen, die ihr Bestes zu geben versuchten und doch nicht verhindern konnten, dass ein weiteres Stück deutscher Historie ins Ungewisse entschwand.
»Was machen wir jetzt?«, presste ich hervor.
»Ich weiß es auch nicht. Im Moment bin ich vollkommen ratlos«, gab Benno zu.
Diese Antwort schockierte mich um so mehr, als ich mir von Benno Tatkraft und Entscheidungsfreude erhofft hatte. Gleichzeitig rekapitulierte ich die gesamte Situation: Blume verhielt sich unkooperativ, Siggi hatte bislang keine Erkenntnisse gewonnen und Oliver Held war entlassen worden. Wenzel drehte sich im Kreis und auch meine eigenen Fortschritte kamen mir zunehmend nichtig vor. Wir wussten im Grunde nichts über den Täter. Und vor allem hatten wir keine Ahnung, wo sich die gestohlenen Exponate befanden. Während wir einige belanglose Details besprachen, reifte in mir ein Entschluss heran. »Es tut mir leid, Benno«, sagte ich langsam aber bestimmt, »ich habe gerade beschlossen, aus dem Fall auszusteigen.«
5. Hanswursts Hochzeit oder Der Lauf der Welt
M
ein Entschluss stand fest. Ohne auf die Worte der Sekretärin zu hören, die mir mehrmals ins Ohr flötete, dass unser Institutsleiter mich dringend sprechen wolle, wankte ich zurück in den Hörsaal und beendete unter großen Mühen meine Vorlesung. Eine knappe Stunde später saß ich in meinem Wohnzimmer in der Textorstraße und sinnierte vor mich hin.
Mein Handy hatte ich ausgeschaltet, ich wollte nichts mehr hören, nichts von gestohlenen Gegenständen, von Stadträten und Hauptkommissaren, von abgedrehten Referenten oder Präsidenten,
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