Goetheruh
die anderen vier vom Vortag, die wegen der überraschenden Ereignisse nicht mehr den Weg in die Spülmaschine gefunden hatten. In den ›Thüringer Nachrichten‹ war zu meiner Zufriedenheit nichts Außergewöhnliches über den Goethehaus-Fall zu lesen. Nach dem Frühstück gönnte ich mir eine heiße Dusche. Als ich im Bad stand und mich rasierte, klingelte mein Telefon. Leicht unwirsch ob der unpassenden Störung meldete ich mich.
»Wie weit sind Sie?« Es war der Redakteur aus Frankfurt. Er hielt es nicht für notwendig, sich mit seinem Namen zu melden. Wut stieg in mir auf.
»Was wollen Sie eigentlich so früh am Morgen?«, fuhr ich ihn an.
»Aha!«, blaffte er zurück, »dann wundert mich gar nichts mehr. Für den Herrn ist also 10 Uhr ›früh am Morgen‹?«
Ich warf einen Blick auf die Uhr. Fünf Minuten nach zehn. Ausgerechnet bei diesem Kerl sank meine Schlagfertigkeit regelmäßig auf den Nullpunkt. »Das geht Sie gar nichts an, ich schreibe, wann ich will!«
»Gut, gut, ist mir ja recht, Hauptsache Sie schreiben überhaupt mal was.«
Sein Tonfall war unverschämt. Ich konnte nichts sagen, war wie paralysiert.
»Sind Sie noch dran, oder sind Sie wieder eingeschlafen?«
»Sie können mich mal!«, schrie ich ins Telefon.
»Ach ja, und was heißt das genau?«
Ich zögerte. Verwegene Gedanken gingen mir durch den Kopf. »Bis Ende der Woche bin ich fertig«, gab ich mich kleinlaut geschlagen.
»Freitag 18 Uhr und keine Minute länger!«, sagte er frostig und legte auf.
Im selben Moment war meine Wut verflogen. So konnte man nur werden, wenn das Kreative komplett von geschäftlichen Zwängen überlagerte wurde. Und eines war klar: an diesen Punkt wollte ich nie kommen. Gleichwohl wurde mir aber bewusst, dass es sehr schwierig ist, sich von diesem negativen Magnetpol der Literatur fernzuhalten.
Ich zwang mich, gedanklich wieder zum Fall JWG zurückzukehren. Es war, als hätte dieses rüde Telefongespräch meinen Kopf zu Wahrheit und Klarheit getrieben. Denn plötzlich tauchten Fragen auf – Fragen, die meine Zufriedenheit über die Ereignisse des Vortags erheblich erschütterten.
Konnte ich Göschke, Siggi und den Psychologen von meiner Theorie überzeugen?
Ich lief rastlos in der Wohnung herum und strich die Teppichfransen glatt. Je länger ich nachdachte, desto mehr Fragen tauchten auf, die ich nicht beantworten konnte.
Warum hatte Jens die Exponate gestohlen, und was hatte er damit vor?
Ich öffnete das Dachfenster und ließ frische Luft herein.
Woher wusste er von meiner Mitarbeit?
An der Badezimmertür entdeckte ich einige dunkle Fingerabdrücke. Ich holte Putzmittel und einen Wischlappen.
Woher hatte Jens den Nachschlüssel zum Nebenhaus und den Schlüssel zur Kellertür?
Wie war er aus der Psychiatrie entkommen?
Hatte er tatsächlich auf Goethes Flügel gespielt?
Ich ging in die Küche und räumte schmutziges Geschirr in die Spülmaschine. Dann schaltete ich sie ein, ohne Spülmittel hineingegeben zu haben. Die rote Warnleuchte blinkte. Die Espressotassen standen weiterhin im Wohnzimmer.
Was hatte Jens mit dem Diebstahl in Frankfurt zu tun?
Kannte er Oliver Held?
Wie war er uns Samstagnacht entkommen?
Wie würde Felix darauf reagieren?
Was würde er als Nächstes tun?
Oh mein Gott! Die Fragen hörten nicht auf, aus meinem Hirn zu sprudeln. Die Spülmaschine blubberte gleichmäßig vor sich hin. Und dann war da schließlich die Frage aller Fragen: Wo waren die gestohlenen Gegenstände?
Meine Aufgabe war noch lange nicht erfüllt.
Zweifel nagten an mir. War es wirklich Jens Gensing? Konnte ich mit den bisherigen Tatsachen wirklich zu Felix gehen und ihm sagen, dass ich seinen Sohn verdächtigte, der gesuchte Kunstdieb zu sein?
Die Zweifel gingen in Verzweiflung über. Wo war Hanna? Unterwegs in Gera. Ich versuchte, sie anzurufen. Keine Antwort.
Ich vermisste sie sehr. Ich ging ins Bad, von dort in die Küche und wieder zurück ins Wohnzimmer. Es hatte angefangen zu regnen, so musste ich das Dachfenster wieder schließen. Wie ein Rastloser lief ich hin und her. Wie ein rastlos Liebender.
Wie soll ich fliehen?
Wälderwärts ziehen?
Alles vergebens!
Krone des Lebens,
Glück ohne Ruh,
Liebe, bist Du!
Ich wünschte, sie könnte mir helfen. Konnte sie das überhaupt? Zumindest durch ihre mentale Stärke. Nein, nicht nur das – auch durch ihr klares, analytisches Denkvermögen. Und durch ihr unvoreingenommenes Zugehen auf andere Menschen und ihr damit verbundenes
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