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Goetheruh

Goetheruh

Titel: Goetheruh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Koestering
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tiefes Verständnis. Wobei Verständnis bei Hanna nie gleichzusetzen war mit Verbrüderung, eher mit Respekt. Sie konnte eine klare Trennlinie ziehen zwischen dem Verständnis für persönliche Argumente anderer und ihrem eigenen Standpunkt. Genau das machte sie in Diskussionen so wertvoll und genau das konnte nützlich sein für die Betrachtung des Täters.
    Er war offensichtlich krank, aber höchst intelligent. ›Er will studieren, aber wir wissen noch nicht was!‹ Er besaß einen hohen Bildungsgrad, aber er war ohne fremde Hilfe nicht lebensfähig. Und seine Mutter wusste das. Deswegen übte sie großen Einfluss auf ihn aus. Ob das immer zu seinem Besten geschah, sei dahingestellt. Viele Mütter auf der Welt tun Dinge, von denen sie überzeugt sind, sie wären gut für ihre Kinder. Das ist wohl der Mutterinstinkt. Ja – Instinkt ist das richtige Wort. Instinkt ist etwas Evolutionäres, Unabwendbares. Genauso unabwendbar wie heftig und überwältigend. Ein gesunder Mensch kann sich dieser überwältigenden Welle irgendwann liebevoll entziehen, kommt ab und zu in ihren Schutz zurück, doch bleibt grundsätzlich auf Distanz, um nicht überrollt zu werden. Nicht so Jens Werner Gensing. Er war von seiner Mutter abhängig, wahrscheinlich mehr, als sie selbst wusste.
    Eigentlich war ich um 11 Uhr mit Benno und Siggi verabredet, aber ich war so unruhig, dass ich es nicht mehr bis dahin aushielt. Ich rief in Siggis Büro an. Er nahm sofort ab. Und er glaubte mir. Natürlich war er verpflichtet, jedes einzelne Detail zu prüfen. Er tat das sofort während ich ungeduldig wartete.
    Jens Gensing war tatsächlich Patient in der Psychiatrie. Das hatte Siggi innerhalb einer Viertelstunde herausgefunden. Zumindest so weit stimmte meine Theorie. Kommissar Hermann war unterwegs ins Krankenhaus zu Sophie, um ihre Aussage bezüglich Jens Gensings Krankenhausaufenthalt zu protokollieren. Gleichzeitig wurde Jens Werner Gensing gesucht, um ihn zur Vernehmung ins Präsidium zu bringen.
    Eine Stunde später stand fest, dass Jens Gensing verschwunden war. Es fehlte jede Spur von ihm. Ein Pfleger in der Psychiatrie hatte ihn am Morgen gegen halb neun zuletzt gesehen, mit der Zeitung in der Hand. In der Klinik wurden die ›Thüringer Nachrichten‹ gelesen. Allerdings hatte Jens keinen Ausgang, und niemand wusste, wie er die Anstalt verlassen hatte. Da musste es noch ein Geheimnis geben. Er wurde auf die Fahndungsliste gesetzt.
    Kommissar Hermann rief an, um mir mitzuteilen, dass er unterwegs in die Psychiatrie war, um dort Jens Gensings Zimmer zu durchsuchen und den Weg zu finden, über den Jens Gensing aus der Anstalt fliehen konnte und wieder hereinkam. Er fragte, ob ich ihn begleiten wolle. Natürlich wollte ich. Ich musste mehr über Jens Gensing erfahren. Insbesondere über seine Erkrankung.
      Bis zur Klinik in der Eduard-Rosenthal-Straße brauchte ich knapp 20 Minuten. Keine schöne Gegend, Industrie- und Bahndamm-Idylle, ein altes graues Gebäude. Zum Glück war der Neubau am Klinikum in der Berkaer Straße bald fertig. Zuerst wollte ich mit dem Chefarzt sprechen, um mir sein Einverständnis zu holen. Kommissar Hermann stand mir mit seiner Polizeiautorität zur Seite. Professor Waskowski machte keine Schwierigkeiten, im Gegenteil, er war froh, dass wir intensiv nach Jens Gensing suchten. Von einer kriminellen Entwicklung seines Patienten wollte er allerdings nichts wissen.
    Der zuständige Arzt war Doktor Dietrich Wagenknecht, ungefähr 65 Jahre alt und seit 30 Jahren in der Anstalt. Nach fünf Minuten Unterhaltung war ich nicht mehr sicher, wer hier der Patient und wer der Arzt war. Ich gab Hermann einen Wink und wir gingen hinaus auf den Flur.
    »Hören Sie, Hermann, aus dem kriegen wir nichts raus«, meinte ich, »gibt es noch einen anderen Arzt?«
    Er dachte nach. »Es gibt da eine weitere Oberärztin, die machte einen ganz vernünftigen Eindruck. Und ich glaube, sie kennt Gensing auch ganz gut.«
    Frau Doktor Schlipsack war eine attraktive Frau mit einem unattraktiven Namen. Sie war ungefähr 40 Jahre alt, schlank, mit schulterlangen, brünetten Haaren.
    Wir stellten uns vor.
    »Was kann ich für Sie tun, meine Herren?« Sie hatte eine dunkle, weiche Stimme. Auf dem Namenschild konnte ich ihren Vornamen lesen: Desiree.
    »Hören Sie, Desiree … oh, entschuldigen Sie, Frau Doktor Schlip…«
    »Kein Problem, nennen Sie mich ruhig beim Vornamen!« Sie lächelte leicht und strahlte dabei eine unheimliche Ruhe aus. Sie hatte

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