Goetheruh
ganz offensichtlich den richtigen Beruf gewählt.
»Danke, ich heiße Hendrik!«
»Hendrik Wilmut?«
Ich war verunsichert. »Ja … äh …, kennen wir uns?«
Sie lächelte wieder »Nein, aber ich kenne Ihre Bücher.«
»Tatsächlich?«
»Ja, ich interessiere mich sehr für die deutsche Klassik – und natürlich für Goethe.«
»Welches Buch haben Sie denn gelesen?«
»Sind Sie gekommen, um mich das zu fragen?«
Ich sah Hermann grinsen. »Oh, äh nein, natürlich nicht«, antwortete ich schnell, »es geht um Jens Werner Gensing.«
Desiree musterte mich interessiert. »Was ist mit ihm?«
»Kennen Sie ihn und sein Krankengeschichte?«, fragte ich.
»Ja, ich kenne ihn. Auch sein Krankheitsbild. Aber …«
»Professor Waskowski schickt uns zu Ihnen«, warf Hermann ein, »wir bräuchten einige Informationen für eine polizeiliche Ermittlung.«
Sie vermied weitere Nachfragen, auch wenn es ihr offensichtlich schwerfiel. »Er leidet seit mehreren Jahren unter paranoiden Zwangsvorstellungen, erheblichen Apperzeptionsstörungen in allen Sinnesbereichen und einer schweren Identitätskrise. Leider konnten wir das Fortschreiten der Erkrankung nicht stoppen und gehen inzwischen von einer schweren dissoziativen Störung aus. Genaueres kann ich derzeit nicht sagen, da sowohl Jens also auch seine Eltern äußerst unkooperativ sind. Wir können nur versuchen, Schritt für Schritt weiterzukommen.«
»Aha, und was bitte bedeutet Apperzeption?«
»Apperzeption ist die klare und bewusste Erfassung eines Erlebnis- oder Denkinhalts. Apperzeptionsstörungen in allen Sinnesbereichen heißt also, dass die betreffende Person mit ihren Sinnesorganen nicht mehr die reale Welt wahrnimmt, sondern eine eigene Welt mit eigenen Bewertungsmaßstäben. Reale Ereignisse werden ganz anders erlebt und gedeutet als von einem gesunden Menschen.«
Eine ähnliche Beschreibung kannten wir aus dem Täterprofil des Psychologen, es schien also zusammenzupassen.
»Interessant. Aber ich kann mir das noch nicht richtig vorstellen, ich meine … hätten Sie vielleicht ein konkretes Beispiel?«
Sie überlegte eine Weile. »Also gut, nehmen wir an, sie fahren im Stadtbus durch Weimar. Sie sitzen am Fenster, neben Ihnen ein älterer grauhaariger Mann. Sie schauen ab und zu gelangweilt hinaus, nehmen dann und wann mal einige Gesprächsfetzen von zwei Frauen auf, die über ihre Männer lachen, schauen ein paar kleinen Kindern zu und warten ansonsten geduldig auf Ihre Station.« Sie machte eine Pause, um zu sehen, ob wir ihr folgen konnten.
»Ja, kann ich mir vorstellen«, bestätigte ich.
»Gut. Hätten Sie eine schwere Apperzeptionsstörung, dann würden Sie die Situation ganz anders empfinden. Sie würden gar nicht aus dem Fenster schauen, sondern nur die Situation im Bus wahrnehmen, damit hätten Sie genug zu tun. Sie würden sich eventuell von dem älteren Herrn bedroht fühlen, weil er Ihnen so nah auf die Pelle rückt. Er verletzt den Mindestabstand von circa 50 Zentimetern, den ein Mensch natürlicherweise respektiert. Der alte Mann hat aber keine andere Wahl, weil die Sitze im Bus enger zusammenliegen. Vielleicht würden Sie sich auch durch seine grauen Haare bedroht fühlen. Wahrscheinlich würden Sie annehmen, dass alle Leute im Bus über Sie reden und dass die beiden Frauen nur über Sie lachen. Sie würden plötzlich alle Gesichter auf sich gerichtet fühlen, nur weil ein paar kleine Kinder Sie anglotzen. In Panik würden Sie den Bus an der nächsten Station verlassen, obwohl Sie gar nicht aussteigen wollten und würden somit Ihr Ziel nicht rechtzeitig erreichen. Ihre Lebensqualität wäre also erheblich eingeschränkt.«
»Sehr eindrucksvoll!«
Desiree nickte mit dem Kopf, sagte aber nichts.
Ich dachte nach. Und ich versuchte, mich in Jens hineinzuversetzen. »Hat er sich jemals eingebildet, Goethe zu sein?«
»Nein, ist mir jedenfalls nicht bekannt. Er bildet sich zwar manchmal tatsächlich ein, jemand anderes zu sein. Dabei handelst es sich aber nie um berühmte Personen, sondern meistens um jemanden aus seinem Familien- oder Bekanntenkreis.«
»Wer zum Beispiel?«
»Einmal war es Professor Bernstedt.«
»Bernstedt?«, rief ich erstaunt.
Sie hob die Schultern. »Na ja, sein Vater und Bernstedt kennen sich sehr gut, sie sind seit vielen Jahren zusammen im Schützenverein.«
»Im Schützenverein?« Dass sich Felix und Bernstedt so gut kannten, war mir neu.
»Hatte er auch Angstzustände?«, wollte Hermann wissen. Dasselbe hatte
Weitere Kostenlose Bücher