Goetheruh
ich mich auch gerade gefragt.
»Ja, allerdings«, antwortete Desiree ohne Zögern, »wobei weiterhin unklar ist, wodurch die Angstzustände ausgelöst werden. Es besteht jedenfalls keine direkte Beziehung zwischen irgendwelchen konkreten Bedrohungssituationen und seinen Angstreaktionen, das haben wir in zahlreichen Tests herausgefunden.«
»Gibt es vielleicht einen Bezug zu seiner Kindheit?« Bei dieser Mutter drängte sich solch ein Gedanke förmlich auf.
»Das vermute ich sehr stark, aber er redet überhaupt nicht über seine Kindheit, und wie gesagt – die Kommunikation mit seinen Eltern ist mehr als schwierig.«
»Verstehe, das passt«, bemerkte ich nachdenklich, »das passt alles. Und die Hauptbezugsperson ist seine Mutter, oder?«
»Richtig!« Sie schien verwundert.
Bevor sie etwas dazu sagen konnte, schaltete sich Hermann wieder ein: »Gibt es irgendwelche äußerlichen Krankheitszeichen, an denen wir ihn erkennen könnten?« Da sprach der Polizist.
»Ja, eine erhebliche Funktionsverlangsamung, den gesamten Körper betreffend. Er läuft langsam, spricht langsam und schläft mehr als ein gesunder Mensch. Vorausgesetzt, er nimmt seine Medizin regelmäßig ein.«
»Und wenn nicht?« Hermann blieb am Ball.
Desiree hob die Hände. »Dann würden Sie diese eben erwähnten körperlichen Zeichen nicht erkennen, und …« Sie stockte.
»Und?«
»Er wäre in einem … unberechenbaren Zustand.«
»Was bedeutet das?«
Es fiel ihr offensichtlich schwer, das zu beschreiben, sie suchte nach den richtigen Worten. Ich sah sie an und fragte in einem offiziellem Ton: »War Jens jemals zuvor gewalttätig?«
»Nein, noch nie.«
»Können Sie nach bestem Wissen und Gewissen ausschließen, dass er gewalttätig werden könnte?«, bohrte Hermann nach.
Ohne zu zögern antwortete Desiree: »Nein, das kann ich nicht.«
Hermann zog die Augenbrauen hoch.
»Aber das ist eine falsch gestellte Frage …«, meinte sie akzentuiert, »das kann ich bei keinem Menschen ausschließen, weder bei Ihnen «, sie zeigte auf Hermann, »noch bei Ihnen!« Diesmal deutete sie auf mich. »Aber das wissen Sie ja selbst sehr genau, meine Herren!« Der gleiche offizielle Gerichtstonfall.
»Auf eine gewisse Art kenne ich Jens Werner Gensing auch … «, sagte ich nachdenklich. »Wir haben den Verdacht, dass er der gesuchte Kunsträuber ist, der wertvolle Gegenstände aus dem Goethehaus entwendet hat.«
Desiree wurde leichenblass. Sie schwieg.
»Halten Sie das für möglich?«, fragte Hermann.
Ihre Miene zeigte Entsetzen. »Jens ist derzeit in einem sehr labilen Zustand, deswegen …«
»Ja?«
»… halte ich vieles für möglich.«
Sie ahnte wohl, was mein fragender Blick zu bedeuten hatte. »Auch das halte ich für möglich. Insbesondere dann, wenn er seine Tabletten nicht nimmt.« Sie stand auf und begann rastlos im Zimmer umherzulaufen. Das Ganze schien sie doch sehr mitzunehmen.
»Haben Sie irgendeine Idee, wo er sich jetzt aufhalten könnte?«, fragte Kommissar Hermann.
»Nein, tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht helfen.«
Ich zuckte mit den Achseln.
Hermann ruderte aufgeregt mit den Armen. »Wir vermuten sehr stark, dass er die Anstalt mehrmals nachts verlassen hat und wieder hineinkam«, sagte er, »haben Sie eine Idee, wie er das angestellt haben könnte?«
Sie war nun vollends verwirrt. Mit solchen konkreten Fragen hatte sie offensichtlich nicht gerechnet. »Nein, tut mir leid, keine Ahnung.«
»Gibt es einen Raum hier im Gebäude oder einen Gebäudeteil, in dem er sich bevorzugt aufgehalten hat?«
Sie dachte nach. »Ich weiß nicht …«
»Bitte, Desiree …«, sagte ich mit ultra-sanfter Weichspülerstimme, »es ist sehr wichtig!«
Sie sah mich an und zog die Stirn in Falten. »Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, er hielt sich oft in der Küche auf. Manchmal half er sogar freiwillig beim Kochen oder Abwaschen. Das ist sehr ungewöhnlich. Ich dachte erst, er hätte eine Liebschaft dort unten, aber dann wechselte das Mädchen von der Küche in die Wäscherei und seine Besuche in der Küche hielten an.«
Hermann nahm sein Handy und dirigierte die Kollegen von der Spurensicherung in die Küche.
Frau Doktor Schlipsack erzählte uns weitere Begebenheiten von Jens und machte uns einen Kaffee. Zwar nicht so gut wie mit meiner alten Gaggia, aber doch recht lobenswert. Währenddessen fiel ihr ein, dass in der Zeit, die Jens außerhalb der Klinik verbracht hatte, niemand darauf achten konnte, dass er seine Medikamente
Weitere Kostenlose Bücher