Goethesturm: Hendrik Wilmuts dritter Fall (German Edition)
Ansichten. Er ist nett. Wir wollten uns
unterhalten, Erfahrungen austauschen, einfach so …«
»Aha,
Erfahrungen austauschen. Mit oder ohne Nudelsalat?«
»Mensch,
Hendrik, was soll das denn heißen? Dieses Treffen hat doch keinen Einfluss auf
unsere Freundschaft.«
»Na,
hoffentlich …«
Benno
legte mir die Hand auf die Schulter. »Vertrau mir bitte!«
»Ich
versuch’s.«
Sein
Gesichtsausdruck spiegelte alles andere als Begeisterung wieder.
Die
zweite Fanfare ertönte. Hanna kam auf uns zu, hakte sich bei mir unter und wir
gingen in den Zuschauerraum. Ich musste nachdenken – in Ruhe nachdenken.
Wir hatten VIP-Plätze in der
dritten Reihe, nah am Geschehen. Vor uns saßen der Oberbürgermeister, der
Kultusminister und einige Stadtverordnete. Auch den Präsidenten der
Goethe-Gesellschaft konnte ich erkennen sowie einige Mitglieder der
Literarischen Gesellschaft Thüringen und den Präsidenten der Stiftung Klassik
Weimar. Ein paar Plätze neben mir saß mein Chef, der Direktor der Herzogin Anna
Amalia Bibliothek.
Zunächst
trat Martin Feinert auf die Bühne, stand vor dem noch geschlossenen Vorhang und
kündigte eine ›Kurzfristige Übernahme‹ an. Wegen einer Erkrankung sei die Rolle
der Marie nun von Frau Dana Hartmannsberger übernommen worden. Natürlich
wussten alle Zuschauer, dass der eigentliche Grund die Entführung von Jolanta
Pajak war, aber wirklich falsch war die Aussage des Regisseurs angesichts der
Erkrankung von Frau Kirschnig nicht.
Der
Vorhang öffnete sich. Die erste Szene in Clavigos Wohnung, verlegt in ein
Frankfurter Hochhaus, verlief exakt wie bei der Generalprobe. Die beiden
Schauspieler, die den Clavigo und seinen durchtriebenen Freund Carlos
darstellten, überzeugten mich. Clavigo zauderte, ich sah seine Unsicherheit und
fühlte mit ihm.
»Ich
kann die Erinnerung nicht loswerden, daß ich Marien verlassen – hintergangen
habe, nenn’s, wie du willst.«
Carlos
deklamierte ein ums andere Mal gegen die Ehe. Nicht direkt gegen Clavigos
geplante Heirat, nein, er war subtiler, sprach gegen die Ehe als solche: »Und
heiraten! Heiraten just zu der Zeit, da das Leben erst richtig in Schwung
kommen soll! Sich häuslich niederlassen, sich einschränken, da man noch die
Hälfte seiner Wanderung nicht zurückgelegt, die Hälfte seiner Eroberungen noch
nicht gemacht hat!«
Alle
warteten gespannt auf Marie.
Szenenwechsel.
Guilberts Wohnung. Marie erschien mit ihrer Schwester. Ohne Buenco. Meines
Erachtens fehlte er nicht, Goethe hätte ihn auch entfernen und das Stück
dadurch straffen können. Dana Hartmannsberger war relativ groß gewachsen,
schlank, mit kurzen blonden Haaren, auf jeden Fall eine attraktive Frau. Ihre
Körpersprache war klar und sicher, eine Frau für den großen Auftritt. Doch
würde sie der Belastung standhalten, eine Jolanta Pajak zu ersetzen? Und das
als Protegé ihres Lebensgefährten?
»Dass
unser Bruder nicht kommt! Es sind zwei Tage über die Zeit.«
Die
Stimme wirkte nicht ganz so sicher wie ihr Auftreten.
»Wie
begierig bin ich, diesen Bruder zu sehen, meinen Richter und meinen Retter.« Sie
stand nicht ganz fest, wirkte etwas unruhig. »Ich erinnre mich … seiner kaum.«
Dana
Hartmannsberger wankte. Nicht nur ihre schmale Gestalt, nein, auch ihre Stimme.
»Ich will stille sein! Ja, ich will nicht weinen. Mich dünkt, ich hätte … kaum
noch Tränen!«
Nun
kannte ich sicher nicht jedes Goethe-Werk auswendig, aber eben den ›Clavigo‹
hatte ich vorab nochmals gelesen. Und ›Kaum noch Tränen‹ hörte sich nicht nach
Goethe an. Er liebte klare Aussagen. ›Keine Tränen mehr!‹ Ich hoffte, dass es
nur wenigen Zuschauern aufgefallen war.
»Clavigos
Liebe hat mir viel Freude gemacht«, deklamierte Dana-Marie, »vielleicht mehr,
als ich meinte.«
Meine
Güte, das war nicht nur falsch, sondern auch sinnentstellend. ›… vielleicht
mehr als ihm die meinige.‹ So musste es heißen. Ich rutschte nervös auf meinem
Sitz hin und her. Hanna sah mich fragend an. Ich verdrehte die Augen. Sie hob
fragend die Schultern. Wahrscheinlich bemerkten nur Fachleute den Fehler.
Die
Souffleuse durchlief wahrscheinlich eine Art Martyrium. Sie war nicht mehr in
der Lage, einzugreifen. Gesagt war gesagt. Falls die Schauspieler zögerten,
konnte sie helfen, ergänzen, den Satz vorantreiben. Aber ein Wort, das sich den
Zuschauern bereits entgegenschwang, konnte sie nicht wieder zurückholen.
»Und
nun, was ist’s nun weiter?«, fragte Marie.
Goethe
war manchmal
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