Goethesturm: Hendrik Wilmuts dritter Fall (German Edition)
unerbittlich. Dana Hartmannsberger stockte. Sie rückte immer näher
an die Souffleuse heran. Was die ihr vorsagte, schien sie nicht glauben zu
wollen. Erneutes Zögern.
»Was
ist an mir gelegen?«
Die
Antwort würden die Zuschauer geben. Und Franziska Appelmann. Da war ich mir
sicher.
8. In einem Kopf
Es brodelte in seinem Inneren.
Meistens schaffte er es, den starken Mann zu spielen. Aber wie lange noch?
Immer wieder wurden ihm andere vorgezogen, egal ob privat oder beruflich. Wie
lange würde er sich das gefallen lassen? Er wusste es nicht.
Pierre
spürte zwar, dass es auf einen Kulminationspunkt hinauslief, doch die exakte
Szenerie war wie durch einen Schleier getrübt. Andere bestimmten, was er zu tun
hatte, was er nach dem Frühstück und vor dem Abendessen zu erledigen hatte,
allerdings bestimmten sie nicht seine Gedanken. Noch nicht! Und eines war klar:
Wenn es so weit wäre, würde er handeln, dann war er Autor, Regisseur und Held
in einem. Selbst wenn es seine letzte Handlung sein sollte.
9. Bei Pepe
Am Sonntag früh brachen Hanna
und ich auf in Richtung Friedrichroda. Das Wetter war hervorragend, noch kühl,
aber blauer Himmel, gegen Mittag waren 18 Grad vorhergesagt. Wir packten unsere
Wanderschuhe ins Auto, eine Regenjacke für alle Fälle und die Trekking-Stöcke.
Zum Schluss kam Hanna mit einem riesigen Rucksack um die Ecke, der nach ihren
Angaben Essen und Trinken enthielt, alles für ein schönes Picknick zu zweit.
Kurz
hinter Erfurt erklomm die A 4 eine Anhöhe, von der man einen wunderbaren Blick
über das Thüringer Becken mit den drei Burgen, den ›Drei Gleichen‹, hatte. Im
Hintergrund lag der Thüringer Wald, wie meistens von Dunst umgeben, mit sanften
pastellfarbenen Erhebungen. Ein phänomenaler Anblick – ein phänomenaler
Augenblick. ›Verweile doch! Du bist so schön!‹ möchte man sagen, so wie Goethe
einst. Er war der Dichter der Menschlichkeit, des Menschen und des menschlichen
Alltagsgenusses. Da traf ich ihn immer wieder, am besten in seinen kurzen, prägnanten
Gedichten. Nicht in den langen Balladen, nein, in den Dreizeilern, Vierzeilern,
kurz auf den Punkt gebracht in unnachahmlich treffenden Worten – darin war
Goethe meisterlich.
Ihr
glücklichen Augen,
Was je
ihr gesehn,
Es sei,
wie es wolle,
Es war
doch so schön!
Gleichzeitig sprach eine solch
positive Lebenseinstellung aus diesen Zeilen, eine motivierende, aufbauende
Stimmung, die half, den Alltag zu bewältigen. Was denn eigentlich ein Gedicht
sei, wurde Goethe einst gefragt. Er antwortete: ›Jedes Gedicht ist
gewissermaßen ein Kuss, den man der Welt gibt.‹
Während
meiner Zeit am Goethe-Institut in Boston lernte ich einen polnischen Kollegen
mit deutschen Vorfahren kennen. Er war der gleichen Meinung, drückte sie aber
so aus: ›Pass auf, mein lieber Hendrik‹, so nannte er mich immer, ›wenn ich
gezwungen wäre, nur ein einziges Buch mit auf eine einsame Insel zu nehmen,
dann wäre dies ein Band mit Goethes Gedichten!‹
Leider
durften wir auf der Autobahn nicht einfach stehen bleiben, deswegen
verflüchtigte sich der schöne Augenblick. Bei Friedrichroda bogen wir ab in
Richtung Oberhof. Es öffneten sich bunte Herbstwälder und Hanna begann zu
singen, Lieder, die ich noch nie von ihr gehört hatte. Lieder über Bäume, Vögel
und Felder. Ich war glücklich. Alles andere war vergessen. Etwa zehn Kilometer
weiter steuerte ich einen kleinen Waldparkplatz an, den ich von Ausflügen mit
meinen Großeltern kannte. Wir zogen die Wanderschuhe an und Hanna bat mich, den
Rucksack zu nehmen. Ich wollte ihn locker über die Schulter werfen. Aber keine
Chance. Das Ding war so schwer, als wäre es mit Goethes gesammelten Werken
gefüllt.
»Das
ist unser Proviant«, sagte sie mit einem bedeutungsvollen Lächeln. »Genügend
Wasserflaschen, Brote, Eier, Radieschen, das Übliche eben.«
Ich
schulterte den Rucksack und stapfte los. Es war ein wunderschöner Sonntag,
abgesehen von dem Gewicht auf meinem Rücken. Etwa zwei Stunden später
entdeckten wir eine Bank am Rand einer Lichtung und beschlossen, hier eine
Pause einzulegen. Das Wasser war erfrischend und die Brote schmeckten gut. Als
ich etwas tiefer in den großen Rucksack hineingriff, spürte ich unvermittelt
etwas Hartes, Metallenes. Ich griff zu und beförderte zu meinem größten
Erstaunen den Siebträger meiner Espressomaschine zutage. Verschmutzt. Dann den
Tamper, einige Espressotassen, schmierig und voll Kaffeereste, sowie ein
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